Es ist bezeichnend – aber für unsere Zeit nicht eben schmeichelhaft –, dass fast 370 Jahre nach Descartes’ Tod eine seiner entscheidenden Lehren weitgehend unverstanden zu sein scheint: Eine sich selbst genügende Metaphysik, die weder der Grundlegung einer Physik noch einer Moral dient, ist überflüssig. Dasselbe Unverständnis begegnet der Kehrseite dieser Bestimmung: Eine nicht in irgendeiner Form von Metaphysik grundgelegte Physik oder Moral ist unmöglich. Mit diesen kategorischen Urteilen ist allerdings keineswegs gesagt, wie Physik und Moral in der Metaphysik grundzulegen seien, ja noch nicht einmal, was genau unter diesen Bezeichnungen zu verstehen ist. Um die Antworten auf diese Fragen, nach denen Descartes sein Leben lang gesucht hat, nachvollziehen zu können, ist nicht die jeweils isolierte Lektüre seiner metaphysischen oder seiner physikalischen Schriften allein, sondern jener Fundus heranzuziehen, in dem alle Fragen zusammenfließen, die Descartes überhaupt beschäftigten. Dieser Fundus ist der Briefwechsel mit seinem Freund Marin Mersenne (1588-1648). Durch seinen Briefwechsel mit praktisch allen Gelehrten seiner Zeit avancierte Mersenne zum zentralen Vermittler wissenschaftlicher Ideen und Ansätze in ganz Europa. Er hatte die Angewohnheit, wissenschaftliche Probleme gleichzeitig mehreren Korrespondenten vorzulegen und deren Antworten an die jeweils anderen weiterzuleiten. Anhand der Korrespondenz mit Mersenne lässt sich die Genese des Cartesischen Discours, der Meditationen und der Principia genauso nachvollziehen wie die Abkehr von Descartes’ frühem Projekt Le Monde aus Anlass der Verurteilung Galileis 1633. Und wir erleben Descartes in der gemessen an seinen Schriften unerwarteten Rolle des Gekränkten, der mitunter die Grenze zum Sarkasmus überschreitet. Mit einer Vorbemerkung des Herausgebers, Anmerkungen und ausführlichen Registern.