Zwischen den 1830er und 1870er Jahren zeichnete, kritzelte und kleckste der französische Schriftsteller Victor Hugo auf tausenden kleinformatigen Papieren. So entstand eine Fülle von Bildern, die in die Bildkultur dieser Zeit passen – bis auf eine Handvoll Ausnahmen: Vier Bilder fallen heraus. Sie lassen sich wegen ihrer rudimentären oder sogar unmöglichen Identifizierbarkeit von Motiven, wegen ihrer komplexen Gemachtheit und wegen ihrer ausschließlich fluiden Faktur weder durch Hugos eigene noch durch andere gängige Bilder des 19. Jahrhunderts kontextualisieren und interpretieren. Ganz anders als die bisherige Forschung nimmt dieses Buch die Bilder nicht schon wie ,Abstraktionen‘ des 20. Jahrhunderts wahr. Vielmehr werden die Bilder als historisch und kulturell spezifische Artefakte untersucht: Folgt man Hugos Machen der fluiden Formationen – seinen mal wässrigen, mal viskosen Tintenmischungen und seinen Handgriffen des Fließenlassens – werden seine künstlerischen Inspirationsquellen sichtbar: Als Hugo diese Bilder machte, lebte er am Meer, las zum Meer und schrieb zum Meer. Seine Lektüren und Überlegungen zu den Entstehungsprozessen im Meer inspirierten ihn, diese Bilder zu machen – vom Zustandekommen von Wesen, Gestein und Lumineszenz aus Meerwasser bis zum Zustandekommen von Bildern aus Tinte. Dabei lassen sich die Bilder nie als Illustrationen von Texten lesen. Sie bewahren immer einen nur ihnen eigenen Sinn. Hugos Bildermachen erscheint somit als eine vom Schreiben eigenständige Praxis, der Andrea Haarer auf den Grund geht: Wozu fertigte Hugo diese Bilder an? Zu welchen Erkenntnissen konnte er nicht im Schreiben kommen, sondern nur im Machen dieser Bilder? Was für ein Zusammenhang von Bild und Meer oder ,Kunst‘ und ,Natur‘ wird in künstlerischen Prozessen erprobt und in Bildern manifest, die nichts darstellend aufnehmen? Was sagt das über Kunst im 19. Jahrhundert aus?