Seit Henri de Lubac und Karl Rahner ist die Diskussion über die Neubestimmung des Verhältnisses von Natur und Gnade nicht mehr zur Ruhe gekommen. Bis heute hält sich die Kontroverse darüber, wie es möglich ist, dass wir eine natürliche Sehnsucht nach der Anschauung Gottes haben, die doch ein unverdientes Gnadengeschenk ist. Die Kontroverse wird durch Duns Scotus und seine Schule, die besonders eindringlich dieses natürliche Streben nach letzter Glückseligkeit betonen, noch zugespitzt. Interessanterweise besteht aber bei allen Unterschieden doch eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen dem hl. Thomas und Duns Scotus – sowohl in der Frage der ›Naturtendenz‹ nach der Anschauung Gottes wie auch in der Überzeugung von dem Wesensunterschied von Natur und Gnade. Andererseits lassen aber die Schüler – und hier besonders die Thomisten – die Unterschiede weit stärker hervortreten als die Meister. Eine vertiefte Ansicht der grenzenlosen Offenheit und Empfangsbereitschaft des menschlichen Geistes lässt die klassische Lehre von der ›potentia oboedientialis‹ in neuem Lichte erscheinen. Zusätzlich ergibt sich ein Blick auf das Verhältnis von natürlicher und übernatürlicher Gottesliebe, das beide Schulen verschieden akzentuieren.