Zum Buch:
Narratives und rituelles Sprechen versus schriftliche Überlieferung: Zwischen diesen Polen spielt sich ein vergleichendes Drama ab: Die oft festgestellte Geringschätzung der sprachlichen Tradierung gegenüber unserer vermeintlich objektiveren Schriftlichkeit wird hier wieder ins Gleichgewicht gebracht.
Die Mündlichkeit im Sinne einer bildhaften Nichtschriftlichkeit ist ein gleichwertiger Partner in der Transmission des geistigen Erbes der Vergangenheit der Völker. Die Hochschätzung und Wertschätzung der Mündlichkeit zeigt sich in dem bekannten Ausspruch des malischen Philosophen und Schriftstellers Ahmadou Hampate Bah: „Un vieux qui meurt, c’est une bibliothèque qui brûle” (Jeder Alte, der stirbt, ist eine verbrannte Bibliothek.)
C. Severis großes Verdienst ist es, die Oralität, die Bilder, Zeichen und Ideogramme wieder in ihren Bedeutungsrahmen gestellt und die Permanenz ihrer Ausdrücklichkeit unterstrichen zu haben. Die Entschlüsselung der Piktogramme, der jahrhundertealten Darstellungen, zu denen wir mühsam unsere Worte finden müssen, verweisen auf einen Gedankenreichtum und eine geistige Kombinatorik ihrer Verfasser, die uns staunen lässt.
Man möchte daraus schließen, dass nicht das Geschriebene, sondern die Piktogramme und Ideogramme Träger von Botschaften sind, die die Zeiten besser überdauern als unsere hochgeschätzte Schriftlichkeit. Und in der Tat: Bilder, Piktogramme, Ideogramme sind die Auslöser der Mündlichkeit (und der Schriftlichkeit), die Vorlage für das Gesprochene, das oft nicht alle begrifflichen Konnotationen erfassen kann und oft große verbale Umständlichkeiten bemühen muss, um das Gemeinte darzustellen. Ideen werden durch Bilder ausgedrückt, die ihrerseits ein ganzes Inventar an Vorstellungen eröffnen, um daraus Zusammenhänge, Geschichte(n) zu erschaffen.
Nun führt diese Betrachtungsweise konsequent auf weitere Pfade, die indianische Piktographien und Schamanengesänge entschlüsseln. Diese verweisen in ihrer realen Substanz und graphischen Darstellung auf nicht greifbare, unverständliche Inhalte, auf Personen uns Geschehnisse, rational durch Chimären dargestellt, die ein Gedankenuniversum füllen. Sie sind aufgrund ihrer Wiederholungsstruktur gleichzeitig ein mnemotechnisches Mittel, um Inhalte, Geschichten, Ereignisse über Jahrhunderte hinweg inhaltsgetreu zu bewahren und damit zu Garanten des kulturellen Gedächtnisses zu werden.
Im Bereich des Schamanismus führen die rituellen Wiederholungen von rational nicht ins Verstehen eingehenden Wörtern zu heilender Hilfe, verbunden mit rituellen, beschwörenden Handlungen, die ein Erbe jahrtausendealter Erfahrungen sind.
Der Kraft der Bilder und Riten der Völker, die nicht von der Schriftlichkeit geprägt sind, wird in Carlo Severis‘ Anthropologie des Gedächtnisses der ihnen zustehende Platz eingeräumt. Es ist ein Buch, das die Bedeutung der nichtsprachlichen Mitteilung über Welt und Menschsein wiederentdeckt.
Notker Gloker, Heiligenberg