Nach dreihundert Jahren der europäischen Dominanz ist durch die Bildung unabhängiger Staaten im 19. Jahrhundert das kulturelle Gefüge Lateinamerikas dramatisch in Bewegung gekommen. Indianismus und Indigenismus, Begriffe lateinamerikanischer Schriftsteller, beschreiben die Ureinwohner und deren kulturelles Erbe als mythische Vorfahren. Mythen dienten dem Kampf gegen die Kolonialmächte, den Unabhängigkeits- und Befreiungsprozessen, wurden Elemente bei der Bildung nationaler Identität. Lothar Kraft verfolgt die Spuren, die dies als intellektuell-literarische Bewegung in verschiedenen Zonen der Musiklandschaft hinterließ – in den hochkunstförmigen wie in den volkstümlichen. Opern stehen im Mittelpunkt der zahlreichen Musikbeispielen aus beiden Americas, denn sie erzählen Geschichten. Politische, wie bei Montezuma-Cortéz oder dramatische Julia- und Romeo-Liebesgeschichten zwischen Europäern und Indigenen. Einen Schwerpunkt bildet Brasilien. Musik nimmt dort eine Rolle ein wie sonst nur der Fußball – von der Straßen- bis zur Spitzenkunst. Dabei sind die regionalen Unterschiede in dem riesigen Land immens. Seit der Ankunft der Europäer dominierte in der Kirchen- und Kunstmusik das portugiesisch-iberische Erbe, im Musiktheater lange die opera italiana. Gerade aber für die im Gegenzug sich entwickelnde brasilianische Musiksprache und die indigenen Theatersujets wie für unterschiedliche Mischformen interessiert sich diese Studie schwerpunktmäßig. Sie präsentiert auch subjektiv genährte Einblicke in die Musikkultur eines Landes, die hierzulande noch mehr Aufmerksamkeit verdient.