Auch wenn man ihn so gut wie nie zu Gesicht bekommt, kann es in immer mehr Waldregionen passieren, selbst von einem Luchs beobachtet zu werden. Der Luchs zieht es vor, im Verborgenen zu bleiben, im Dickicht der Natur, in den Tiefen kulturgeschichtlicher Archive. Er bevölkert nicht – wie Bär und Wolf – Kunst und Literatur. In Erscheinung aber tritt der Luchs immer dann, wenn sich die europäische Zivilisation mit ihren Selbstwidersprüchen konfrontiert sieht – in Krisenmomenten und Schwellenzeiten wie der Renaissance oder der Aufklärung. So ist es wahrscheinlich kein Zufall, dass der Luchs, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa so gut wie ausgerottet war, gerade jetzt in unsere Wälder und Wahrnehmung zurückkehrt, während eines vom Menschen verursachten Artensterbens ungeahnten Ausmaßes. In seinem Portrait des Luchses als scharfsichtigem Beobachter solcher Umbrüche zeichnet Bernhard Malkmus eine faszinierende alternative Geschichte unserer Kultur nach. Anhand von Dokumenten von der Antike bis zur Gegenwart, von Galilei, Goya und Lévi-Strauss, wird der Luchs als kluger Kenner des Menschen lebendig, der uns dazu einlädt, den Zusammenhang zwischen Naturvernichtung und instrumenteller Vernunft im Zeitalter des Anthropozäns zu reflektieren. Seine Wiedereinbürgerung stellt uns die lange verdrängte Frage, inwieweit wir uns selbst wieder ein Stück auswildern müssen, um uns als Bürger der Biosphäre bewähren zu können.