Zum Buch:
Jürgen Habermas ist auch im hohen Alter noch der wichtigste Intellektuelle der Bundesrepublik. Kein/e NachfolgerIn ist in Sicht, der oder die eine vergleichbar herausgehobene Stellung im philosophischen Betrieb mit einem derartigen politischen Engagement verbindet. Philipp Felschs sehr gelungenes, persönliches Porträt des Philosophen ist nicht einfach nur eine nebensächliche Homestory, sondern eine kleine intellektuelle Nachkriegsgeschichte Deutschlands.
Den „Abschied vom Tiefsinn“ nannte Habermas einmal die Anforderung, Philosophie und Gesellschaftskritik aus dem Feld der spekulativen Philosophie herauszunehmen und ans Licht der zwischenmenschlich diskutierbaren, transparenten und nachvollziehbaren Argumentation der Wissenschaft zu zerren. Bis heute ist die Figur Habermas mit der Frage verbunden, ob diese heikle Operation überhaupt möglich und wünschenswert ist.
Denn geht es in der Politik nicht letztendlich immer um Machtverhältnisse, die sich nicht vernünftig auflösen lassen? Ist kämpferisches, politisches Handeln nicht auf den Überschuss kreativer Energie angewiesen, der gerade im trüben Wasser des irrationalen Tiefsinns entsteht, während der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ eigentümlich zahnlos bleibt? Kann man der Sprache, in der unsere Politik stattfindet, wirklich alles Metaphorische und Hyperbolische austreiben und uns stattdessen auf klare Verständigung konzentrieren? Und: wäre das eine Welt, in der wir noch leben wollten?
Ja, sagt Habermas, und verteidigte stets ein in diesem Sinne ganz klassisches Programm der „massenhaften Aufklärung“. Nicht nur gegen wiederaufkeimende Nationalmythen der Neuen Rechten, sondern auch gegen linke Theorien. Legendär sind seine Interventionen in die Studentenbewegung, mit denen er den jungen Leuten die flapsigen Binsenweisheiten eines verwässerten Marxismus aus- und ein gutes Stück Verstand einreden wollte.
Es versteht sich von selbst, dass auch ein strenges Denken oft falsch liegen kann, und Felsch zählt ohne falsche Zurückhaltung mehrere Stationen auf, an denen Habermas’ Denken schlicht gescheitert ist. Überhaupt ist eine unglaubliche Menge an Recherchearbeit in dieses Buch eingeflossen, was sich nicht zuletzt an den nicht enden wollenden Seiten an Literaturnachweisen und Registern ablesen lässt – durch die sich das Buch nicht nur als Biographie, sondern auch als Einführung in Habermas’ Denken bestens eignet.
Relevant ist Habermas daher heute vielleicht nicht so sehr aufgrund seiner konkreten Interventionen, sondern wegen des im besten Sinne des Wortes demokratischen „Denkstils“, dem Felsch besondere Aufmerksamkeit schenkt. Gemeint ist eine Wissensform, die sich nicht aus letzten Wahrheiten und obersten Prinzipien ableitet, sondern stets auf der Höhe des state of the art der Philosophie argumentiert und sich immer neu in der Diskussion rechtfertigen kann und eben auch muss. Schon der kürzlich verstorbene Oskar Negt wusste von dem „ungeheuerlichen Maß an Begründungsanstrengung“ zu berichten, das Habermas sich selbst und seinen Studierenden im Seminar abverlangt haben soll.
Die Habermas’sche Strenge hatte jedoch auch eine Schattenseite: Oft wuchs auf bestimmten thematischen Feldern nach der eingehenden Prüfung ihrer Logik kein Grashalm mehr. Seine „Rekonstruktion des Historischen Materialismus“ fiel begrifflich so streng und gründlich aus, dass von dem so Auseinandergenommenen kaum noch etwas übrigblieb. Viele radikale Linke („radikalisiert durch die Adornosche Theorie und enttäuscht durch die Adornosche Praxis“ ) haben ihm nicht verziehen, dass seine Theorie – in den Worten Axel Honneths – sich lieber an Verständigung denn am „stilistischen Widerstand gegen Zweckrationalität“ orientierte.
Trotzdem kann man hinter Habermas’ Interventionen nicht mehr zurückgehen – aus der Philosophie darf man nicht beliebig aussteigen, wenn einem das Ergebnis nicht mehr gefällt. Genau dies scheint Habermas’ langlebigste Lektion zu sein, meisterhaft herausgearbeitet von Philipp Felsch: Wer Politik und Wissenschaft ernsthaft betreiben will, muss in guten wie auch in schlechten Zeiten zum besseren Argument halten, egal, ob es der eigenen Agenda gerade gelegen kommt.
Fiorian Geissler, Karl Marx Buchhandlung, Frankfurt