Zum Buch:
Erling Kagge ist Verleger, Autor zahlreicher Bücher und Vater von drei Töchtern. Auf Deutsch ist nun sein letztes Buch erschienen. Stille. Ein Wegweiser heißt es. Entgegen allen schnellen Vermutungen handelt es sich nicht um einen esoterischen Ratgeber, und Kagge ist weder Buddhist noch Achtsamkeitstrainer. Er hat den Mount Everest bestiegen und beide Pole der Erde zu Fuß erreicht, hat den Pazifik im Segelboot überquert und kriecht auch schon mal fünf Tage lang durch die „Eingeweide“ – die Tunnel und Abwasserkanäle – von New York. Ihm ist durchaus etwas anderes zum Thema Stille eingefallen, als gemeinhin dazu publiziert wird.
Kagge geht es nicht nur um Ausnahmesituationen, wie er sie in der Einsamkeit der Antarktis, allein, ohne Verbindung zur Welt, über Wochen erlebt hat. Ihm geht es um unser aller normales Leben im Gewusel der Städte, im Beruf, vor den Bildschirmen und Fernsehern, mit dem Smartphone in der Hand. Darum, dass es immer schwieriger wird, Ruhe zu finden, und es doch – wenn man dazu bereit ist – möglich sein kann, die Welt für Momente auszusperren. Es geht um die immer noch vorhandene Sehnsucht nach den seltenen Momenten, in denen wir sie wahrnehmen können – die Stille. Um uns herum und in uns.
Nach einem Vortrag in Schottland stellten Studenten Kagge drei Fragen:
„Was ist Stille? Wo ist sie? Warum ist sie heute wichtiger denn je?“
Seine Reaktion darauf: „Ich begann zu schreiben, nachzudenken und zu lesen, allerdings eher für mich selbst. Abend für Abend beschäftigte ich mich mit den drei Fragen.
Schließlich hatte ich dreiunddreißig Versuche einer Antwort.“
Aus diesen Versuchen besteht der Text. Es sind Gedanken, Erinnerungen, Erlebtes und Erträumtes. Kagge nimmt Bezug auf wissenschaftliche Untersuchungen, philosophische Überlegungen, literarische Texte und auf seine Erfahrungen im Eis. Seine Antworten sind kurze Abschnitte, die zumeist in Bezug zum alltäglichen Leben stehen: die Versuche, im Berufsverkehr von Oslo die Außenwelt für einen kleinen Moment auszusperren, die Schwierigkeit, der Dauerablenkung durch Mails zu entgehen, die Manipulation unseres Verhaltens durch die modernen digitalen Techniken. Man benötigt keine stundenlangen Meditationen, um die Stille zu finden, sondern muss offen für die Augenblicke sein, um sie da zu entdecken, wo man sie finden kann. Außen und Innen.
Kagge schreibt unprätentiös und unangestrengt. Das Missionarische, das im deutschen Untertitel anklingt, fehlt dem Text zum Glück völlig. Trotzdem ist es ein Buch, das ich beim Lesen immer mal wieder aus der Hand sinken ließ, verblüfft durch einen Gedanken, angerührt durch eine geschilderte Situation, um in einem kurzen Moment der Stille dem nachzuspüren, was ich da gerade gelesen habe. Ein schönes Buch, auch äußerlich. Klar und hell, mit ruhigen Fotos. Stille ist ein kleines Geschenk – für sich und auch für andere.
Ruth Roebke, Bochum