Zum Buch:
Wir Bewohner der Europäischen Union haben uns an die Freizügigkeiten eines weitgehend geeinten, (bis vor kurzem) friedlichen Kontinents gewöhnt, an ein freies Leben in Demokratien, an Rede- und Reisefreiheit und relativen Wohlstand. Dabei ist es gerade ein Menschenalter her, dass Europa in Trümmern lag, und auch nach Ende des Krieges herrschten nicht nur im Osten, sondern auch in Griechenland, Spanien und Portugal noch lange Diktaturen. Wie leicht es scheint, diese Errungenschaften wieder infrage zu stellen, wie schnell Eigennutz wieder über den Gemeinsinn siegt und wie bedrohlich der erneut erstarkende Nationalismus mit all seinen Begleiterscheinungen heraufzieht, war für den Historiker, Professor für Europäische Studien und fulminanten Kenner der politischen Landschaften Timothy Garton Ash, Anstoß für sein neues Buch Europa. Eine persönliche Geschichte.
Das Buch umfasst die Zeitspanne von 1945 bis zur Gegenwart. Es beginnt mit einem Prolog, einer kurzen Schilderung von Garton Ashs erstem Aufenthalt auf dem „Kontinent“, ist dann in die Abschnitte Zerstört, Geteilt, Aufstrebend, Triumphierend bis hin zu Taumelnd gegliedert und endet in einem kurzen, bewegenden Epilog. Der Text beschreibt, wie ein vom Krieg zerrütteter Kontinent langsam die Traumata von Tod und Zerstörung hinter sich lässt, Deutschland, den Verursacher des Krieges, einbindet und schließlich den trennenden Gegensatz zwischen Ost und West (fast) überwindet – verbunden mit der Hoffnung, dass Einigkeit, trotz vieler Gegensätze, erstrebenswerter ist als das Gegeneinander der Nationalstaaten, auch wenn dies ständige Auseinandersetzungen und Arbeit an Kompromissen bedeutet. Mit großer Beunruhigung beobachtet der Autor, mit welchem Leichtsinn politische wie gesellschaftliche Strömungen in vielen Ländern heute beginnen, autokratische Regierungsformen der angeblich schwachen und anstrengenden Demokratie vorzuziehen.
Garton Ash hat bereits in seiner Studienzeit in West- wie Ostberlin ein starkes Interesse für den Mittel- und Osteuropäischen Raum entwickelt, wobei seine vielfältigen Sprachkenntnisse aus beiden Regionen ihn schnell Kontakte finden ließen. So hat er, auch wenn der Werdegang der Europäischen Union ein zentrales Thema des Buches ist, von Begin an ganz Europa – West wie Ost – im Blick.
Dass das Buch bei aller Fakten- und Ereignisfülle nie trocken oder mühsam zu lesen ist, liegt an der Leichtigkeit, mit der Garton Ash nahtlos mehrere Ebenen verknüpft: individuelle Erfahrungen aus Gesprächen mit zahllosen Politikern und Menschen aus unterschiedlichen Ländern, amüsante und berührende Anekdoten, private Erlebnisse und historische Reflektionen. Alles ist mit großer Sachkenntnis, voller Ironie und Selbstironie, ungeheuer unterhaltsam, aber nie oberflächlich geschrieben. Die gelegentlichen kleinen Eitelkeiten lässt man dem Autor gerne durchgehen. Europa ist ein leidenschaftliches, bewegendes Plädoyer für Demokratie, individuelle Freiheit, Offenheit Fremdem und Fremden gegenüber, für Vielfalt und Unterschiede – diesem eminent wichtigen Buch sind viele LeserInnen zu wünschen!
Ruth Roebke, Frankfurt a.M.