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Bereits am frühen Morgen begibt sie sich auf den Weg. Zu Fuß. Mit leichtem Gepäck. Es dauert nicht sehr lange, und sie lässt das Ortsschild hinter sich: Rózyna. Sie hält kurz inne, lässt den Blick über das leicht ansteigende Land schweifen, die Äcker, Felder, Wiesen. Es ist der 22. Januar 2020 und im Grunde viel zu warm für die Jahreszeit, doch das stört sie in diesem Moment nicht, im Gegenteil, für ihr Vorhaben ist das trockene Wetter genau richtig.
Was, so fragt sie sich, bedeutet uns Heimat? Ist es Sehnsuchtsland? Erinnerungsstätte? Und wohin verschwinden die Erinnerungen, die damit untrennbar verbunden sind, wenn es diese Heimat gar nicht mehr gibt?
Genau fünfundsiebzig Jahre zuvor, zu einer Zeit, als dieser Ort noch Rosenthal hieß, sahen sich seine rund dreihundert Einwohner dazu gezwungen, völlig überstürzt ihre ostschlesische Heimat zu verlassen. Darunter Christiane Hoffmanns Vater, damals noch ein Kind. Es war ein bitterkalter Januarmorgen, als der Flüchtlingstreck sich auf den Weg machte, während vom nur anderthalb Kilometer entfernten Ufer der Oder Artilleriefeuer herüberscholl. Die verängstigten Menschen waren angehalten worden, nur das Allernötigste mitzunehmen, vor allem Nahrung, warme Kleidung zum Wechseln, einige wenige Wertgegenstände. Das Vieh in den Ställen war rasch mit Wasser und Futter versorgt worden, da man zu diesem Zeitpunkt noch davon ausging, in drei, spätestens vier Tagen wieder zurückkehren zu können, galt es doch lediglich, sich aus der Schusslinie der herannahenden Russen zu bewegen. Aber am Ende würde alles verloren sein: Haus, Hof – und Heimat.
Das erste Mal kehrt Christiane Hoffmann als Teenager mit ihrer Familie an jenen Ort zurück, von dem ihr Vater trotz anhaltenden Bittens nur wenig zu erzählen bereit ist. Denn nochmal: Wie lässt sich ein Land beschreiben, das es nicht mehr gibt? Man befindet sich inmitten des Kalten Kriegs, die Armut im ländlichen Polen ist unübersehbar, weshalb bei ihrer Ankunft in Rózyna zunächst eine Atmosphäre aus Zurückhaltung und begründeter Scham vorherrscht – auf beiden Seiten. Aber schon bald überwiegt das Interesse aneinander, verbindet doch beide Parteien, die aus dem Westen und jene neuen Besitzer, die damals aus Lemberg vertrieben worden waren, das Schicksal der Heimatlosigkeit.
Vierzig Jahre später, kurz nachdem ihr Vater einer Krankheit erlegen ist, beschließt Christiane Hoffmann, ein weiteres Mal zurückzukehren, um sich auf dessen Spuren zu begeben. Mit leichtem Gepäck. Zu Fuß. Sie löst sich vom Anblick der vertrauten Landschaft, strafft die Riemen ihres Rucksacks und marschiert einfach los.
Es ist ein zu gleichen Teilen aufrüttelndes und bewegendes, zu jedem Zeitpunkt jedoch überaus persönliches Buch, dass Christiane Hoffmann mit Alles, was wir nicht erinnern vorgelegt hat, und im Verlauf der Lektüre werden sich Leserinnen und Leser mehrmals fragen, weshalb man diese Autorin erst jetzt für sich entdeckt hat. Die Art und Weise, wie sie es versteht, ihre Gefühle zu vermitteln, aber auch Situationen, Land und Leute zu beschreiben, zeugt von höchster Einfühlungsgabe und einem großen Vertrauen in die Macht der Sprache. Hier werden durch einen flüchtigen Handstreich aus Nebenschauplätze Bühnen, geraten vermeintliche Beiläufigkeiten zu grundlegenden Gewissheiten, die man teilen möchte, teilen kann.
Es ist vornehmlich dieser hohen Kunst der Sprache zu verdanken, dass Leserinnen und Leser letztendlich zu der Erkenntnis gelangen könnten, Heimat sei kein Ort. Vielmehr ein Gefühl.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln