Zur Autorin / Zum Autor:
Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet.
Ethan Green ist ein anständiger Mensch. Er liebt seine Frau, seine Kinder und seinen Beruf als Neurochirurg am Krankenhaus von Beer Scheva, der gottverlassenen Stadt in der Wüste, in die es ihn von Tel Aviv verschlagen hat, weil er so anständig war, die Korruption seines dortigen Chefs nicht stillschweigend hinzunehmen. Ethan ist der Inbegriff des anständigen, weltoffenen Bürgers, gesetzestreu nicht nur deshalb, weil seine Frau Polizistin ist, er ist Wähler der Menschenrechtspartei, liebevoller Vater und Ehemann und zuverlässiger Freund. Und fährt nach einem langen Arbeitstag nachts in der Wüste einen Menschen tot.
„Löwen wecken“ ist große Literatur, die einen nicht mehr loslässt, lange, nachdem man das Buch zugeschlagen hat.
(ausführliche Besprechung unten)
Ethan Green ist ein anständiger Mensch. Er liebt seine Frau, seine Kinder und seinen Beruf als Neurochirurg am Krankenhaus von Beer Scheva, der gottverlassenen Stadt in der Wüste, in die es ihn von Tel Aviv verschlagen hat, weil er so anständig war, die Korruption seines dortigen Chefs nicht stillschweigend hinzunehmen. Ethan ist der Inbegriff des anständigen, weltoffenen Bürgers, gesetzestreu nicht nur deshalb, weil seine Frau Polizistin ist, er ist Wähler der Menschenrechtspartei, liebevoller Vater und Ehemann und zuverlässiger Freund. Und fährt nach einem langen Arbeitstag nachts in der Wüste einen Menschen tot.
Was tut ein anständiger Mensch, der plötzlich und unvorhersehbar einen anderen Menschen getötet hat?
Noch unter Schock, verwirrt, zitternd, hilflos setzt er sich, nachdem er sich vergewissert hat, dass dem Unfallopfer nicht mehr zu helfen ist, wieder in seinen Jeep und fährt nach Hause. Fahrerflucht. Aber wer ehrlich ist, wird das nachvollziehen können. Schließlich steht viel auf dem Spiel – Beruf, Familie, Ansehen –, das Opfer ist tot und nicht mehr lebendig zu machen, und niemand hat es gesehen. Niemand?
Am nächsten Tag steht die Frau des Opfers vor seiner Tür, Sirkit, eine große, schöne Migrantin aus Eritrea. Er bietet ihr Geld an, aber sie will sein Wissen, seine ärztliche Kunst, seine Hilfe für ihre Landsleute. Und so tut er quasi Buße, behandelt und operiert gezwungenermaßen in den nächsten Wochen in einer verlassenen Autowerkstatt nachts und unter primitiven Bedingungen illegale Einwanderer, schmutzige, heruntergekommene, verletzte, ausgebeutete Menschen, Männer und Frauen mit ekelerregenden Hautkrankheiten und Geschwüren, Durchfall, eitrigen Wunden. Es ist eine völlig andere Welt, die sich ihm hier auftut, unbekannt, mit fremden Regeln und Gesetzen, man könnte sie als Parallelgesellschaft bezeichnen, wäre sie nicht, wie er zunehmend begreift, integraler, wenn auch nie wahrgenommener Bestandteil der eigenen Gesellschaft. Eine Nachtwelt, die die Gewissheiten seines normalen Alltags zunehmend in Frage stellt und ihre Schatten auch auf seine Familie und seinen Beruf wirft.
„Löwen wecken“ ist ein veritabler Gesellschaftsthriller, großartig in Stil und Aufbau (und von Ruth Achlama wunderbar ins Deutsche gebracht), beunruhigend, erschreckend und erschreckend spannend, eine Tour de Force durch die Abgründe des heutigen Israel, in dem wir bei aller Spezifität aber problemlos die Abgründe unserer eigenen Gesellschaft wiedererkennen. Die Lektüre zieht uns unerbittlich in das Leben der Protagonisten und zwingt dazu, Fragen zu stellen: Wer sind wir? Was sind die Konsequenzen unseres Handelns? Schaffen wir nicht stets das Böse, wenn wir das Gute wollten? Was wissen wir übereinander? Wissen wir überhaupt etwas über den Anderen? Ist das, was wir zu wissen glauben, nicht vielmehr eine unendliche, endlos revidierte Reihe von Projektionen, die mehr über uns aussagen als über diejenigen, auf die wir sie richten?
Große Fragen, sicherlich, aber wer sollte sie stellen, wenn nicht große Literatur? Und genau das ist „Löwen wecken“: große Literatur, die einen nicht mehr loslässt, lange, nachdem man das Buch zugeschlagen hat.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main