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Tage in Burma

Autor
Orwell, George

Tage in Burma

Untertitel
Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié
Beschreibung

Gelegentlich bekommt man in der gegenwärtigen medialen Welt den Eindruck, dass Kolonialismuskritik, Dekolonialisierungs-, Rassismus- und Genderdebatten ein völlig neues Phänomen sind, Denkmalstürze und Woke-Aktivismus inklusive. Bis einem dann ein Buch aus dem Jahr 1934 in die Hände fällt, das eindrucksvoll belegt, dass dem einen oder anderen Kolonialbeamten schon vor fast hundert Jahren die verheerenden Folgen des Kolonialismus für Kolonisatoren und Kolonisierte gleichermaßen klar waren, falls er denn hinschauen wollte. Und einer, der eben das wollte und gründlich tat, hieß George Orwell. Tage in Burma ist nicht nur sein erster Roman, sondern auch, was Stil und Aufbau aufgeht, sein bei weitem bester.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Dörlemann Verlag, 2021
Seiten
464
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-03820-080-2
Preis
30,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

George Orwell, eigentlich Eric Arthur Blair, geboren 1903 in Motihari (Indien) als Sohn eines britischen Kolonialbeamten. Nach seiner Schulzeit in Eton und Wellington trat er 1922 in den burmesischen Polizeidienst ein. 1927 zog er zurück nach Europa und arbeitete in London sowie in Paris als Journalist, Tellerwäscher und Lehrer. Auf seinen Debütroman Tage in Burma folgten neben weiteren Büchern zwei Klassiker der Weltliteratur, Farm der Tiere und 1984. George Orwell starb am 21. Januar 1950 in London.

Zum Buch:

Gelegentlich bekommt man in der gegenwärtigen medialen Welt den Eindruck, dass Kolonialismuskritik, Dekolonialisierungs-, Rassismus- und Genderdebatten ein völlig neues Phänomen sind, Denkmalstürze und Woke-Aktivismus inklusive. Bis einem dann ein Buch aus dem Jahr 1934 in die Hände fällt, das eindrucksvoll belegt, dass dem einen oder anderen Kolonialbeamten schon vor fast hundert Jahren die verheerenden Folgen des Kolonialismus für Kolonisatoren und Kolonisierte gleichermaßen klar waren, falls er denn hinschauen wollte. Und einer, der eben das wollte und gründlich tat, hieß George Orwell. Tage in Burma ist nicht nur sein erster Roman, sondern auch, was Stil und Aufbau aufgeht, sein bei weitem bester. Und der Erscheinungstermin der Neuübersetzung (die erste und bis dahin einzige deutsche Ausgabe erschien 1982 bei Diogenes) könnte gar nicht besser gewählt sein.

Ort der Handlung ist der fiktive Distrikt Kyauktada im Norden Burmas. Hier vertreiben sich die englischen Kolonialbeamten, Holzhändler und Militärs die Tage mit reichlich Gin (zur Desinfizierung gegen Tropenkrankheiten), Tennis, Jagden und gelegentlichen (Arbeits-) Aufenthalten im Dschungel, umsorgt und umhegt von einheimischem Personal, das sie fürchten und dementsprechend schikanieren. In dieser kleinen Gemeinschaft sind Anpassung und Konformismus Pflicht – wer Zweifel an der als unumstößlich geltenden englischen Überlegenheit über die „minderwertigen“ Einheimischen äußert, wird zum Paria. Das bekommt auch der Protagonist, der 35-jährige alleinstehende englische Holzhändler John Flory, zu spüren, dessen Freundschaft mit dem indischen Arzt und Gefängnisdirektor Dr. Veraswami von seinen Landsmännern und -frauen äußerst misstrauisch beobachtet wird. Denn Flory ist der einzige Europäer am Ort, der sich tatsächlich für das Land, seine Bewohner und, ja, für deren Kultur begeistert, obwohl doch jeder Engländer in Burma weiß, dass „die Nigger“ einfach keine Kultur besitzen können. Dr. Veraswami ist der einzige Freund, bei dem er sich über die Borniertheit seiner Landsleute beklagen kann – ohne allerdings auf Verständnis zu stoßen, denn der ist von Bewunderung für alles Englische voll.

Der Austausch zwischen den beiden ist die erste verblüffende ironische Wendung in diesem großartigen Buch, die zweite folgt nach der Ankunft der Nichte eines anderen Holzhändlers, Elizabeth Lackersteen, auf der Suche nach einer guten Partie in Übersee. Flory verliebt sich sogleich in die junge Frau, die mit ihrer Mutter in Paris gelebt hatte, dem Hort der damaligen künstlerischen Avantgarde, und stattet sie in seiner Phantasie mit all dem aus, was er bei einer Gefährtin erseht: Liebe zur Literatur, Neugier auf das Fremde, Kunstsinn, anregende Gespräche, kurz, das Ende seiner Einsamkeit. In seiner Begeisterung übersieht er allerdings völlig, dass Elizabeth das genaue Gegenteil seiner Träume ist, nichts so sehr hasst wie „intellektuelles Geschwätz“ und vor allem eins will: ein sorgloses, verwöhntes Leben, abgeschottet von dem Land, in dem sie sich befindet und an dessen Natur und Bewohnern sie nicht das geringste Interesse hat.

Orwell verfällt allerdings in seinem Hass auf die englischen Kolonisatoren nicht in den Fehler, die Burmesen zu idealisieren. In der Figur des brutalen Distriktrichters U Po Kyin, einem Meister der Intrige, der seinen Aufstieg der hohen Kunst der Bestechung verdankt, führt er vor, wie sich „traditionelle“ kulturelle Formen von Macht und Gier gegen die weißen Herren richten und sie als brutale Dummköpfe entlarven, die gar nicht imstande sind, die wahren Absichten des Intriganten zu erahnen. Und so erreicht U Po Kyin sein Ziel: die Aufnahme in den bislang für Einheimische versperrten englischen Club und die ungeheure Erweiterung seiner Macht.

In Tage in Burma hat Orwell seine eigenen Erfahrungen aus fünf Jahren in der britischen Imperial Police in Burma verarbeitet und daraus ein Buch gemacht, das den englischen Kolonialismus in seiner ganzen, schrecklichen Brutalität, Dummheit und Zynismus so gnadenlos entlarvt, dass einem immer wieder der Atem stockt. Ein so großartiges wie nötiges Buch gerade für die gegenwärtigen Debatten.

Irmgard Hölscher, Frankfurt a. M.