Zum Buch:
Mit diesen Erzählungen stimmt etwas nicht. Jeder einzelne Text verhandelt auf seine Art eine Form menschlichen Unglücks, jede Figur versucht auf ihre Weise, mit den Unwuchten des Lebens zurecht zu kommen – und alle scheitern sie. Oder doch nicht?
Da ist zum Beispiel die Erzählung Jakobshöhe, deren Plot an Alltäglichkeit wohl kaum zu überbieten ist: Eine verheiratete Frau beginnt eine Affäre mit einem verschuldeten Außendienstler. Es dauert nicht lange, bis das kleine Arrangement auffliegt, der gehörnte Ehemann bekommt Wind von der Sache, und ein kleines großes Leid ist in der Welt, das schließlich in einer verzwickten Dreieckssituation mündet. Lakonisch krönt Bärfuss das offene Ende: „Was geschieht danach? Jemand stirbt. Aber wer? Alle sterben. Die Frage bleibt nur, in welcher Reihenfolge. Falls die Frau die Erste ist, bleiben zwei trauernde Männer zurück. Falls es einen der Männer trifft, bleibt ein Glück möglich. Für wie lange?“
Schlank kommen die Erzählungen daher, geschrieben in einer kristallklaren Sprache, die Sätze komprimiert, die Erzählzeit mitunter bis zur Lichtgeschwindigkeit gerafft. Und doch gleitet man auf der geschmeidigen Sprache dahin, gerät in den Sog dieses lakonischen Tons, um dann, unvermittelt, ins Straucheln zu geraten. Plötzlich geschieht etwas Irritierendes, bricht eine Figur aus einer scheinbar glasklar vorgezeichneten Bahn: Der seit Jahrzehnten unglücklich Verliebte etwa fährt nicht, wie er es sich vorgenommen hatte, direkt zu seiner Verflossenen, sondern heuert unterwegs unvermittelt bei einem wortkargen Bauern an, um auf dessen Hof zu helfen. Oder: Ein Mann vergräbt einen extra dafür gekauften, eigenhändig ausgeschlachteten Alfa Romeo Giulia in seinem Garten, und beobachtet, wie sein Nachbar Nacht um Nacht neben das zum Blumenbeet umfunktionierte Auto scheißt.
Es sind solche, die so wunderbar glatte Oberfläche des feinen und überaus flüssigen Stils durchstoßenden Momente des Surrealen und Grotesken, die eine immense Wirkung haben, den Leser von den Figuren entfremden, ihn aber nicht auf absolute Distanz bringen, denn das, was verhandelt wird, sind mitnichten extravagante Abseitigkeiten, sondern Situationen, Unglücke, die in einem stinknormalen Lebenslauf durchaus auftreten können.
Lukas Bärfuss legt mit Malinois dreizehn Erzählungen vor, die es in sich haben. Da, wo andere Autoren das Textmaterial weiter straffen, zuspitzen, auf den Clou hin arbeiten würden, hört Bärfuss auf und entlässt den Leser mit einer sich im Nebel der Eventualitäten verlierenden Handlung. Es gibt da keine durchbuchstabierte Moral, keine messerscharf gezogene Bilanz, keine absolut zwingende Logik, die diesen oder jenen Plot auf einen bestimmten Punkt hin treibt. Andeutungen allerdings gibt es reichlich, literarische Referenzen selbstverständlich und eine ordentliche Menge an Irritationen, die nicht sofort augenfällig werden, sondern ihre Wirkung erst im Laufe der Zeit, vielleicht auch erst nach dem Zuklappen des Buches zeitigen. Und das ist es schließlich, was mit diesen Erzählungen – im besten Sinne! – nicht stimmt: Nach der Lektüre ist der Kopf voller Fragen, klare Antworten gibt es nicht, und trotzdem bekommt man nicht genug davon.
Johannes Fischer, autorenbuchhandlung Marx & co, Frankfurt