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Bei den Minderen Brüdern

Autor
Heidtmann, Andreas

Bei den Minderen Brüdern

Untertitel
Roman
Beschreibung

Als der etwa sechzehn- oder siebzehnjährige Ben das Franziskanerkolleg am Rande des Ruhrgebiets betritt, in dem er so lange wohnen soll, bis seine Mutter wieder aus der Psychiatrie kommt, ist er eigentlich ganz angenehm überrascht. Das Zimmer ist ok, trotz der trüben Aussicht aus dem Fenster. Er weiß noch nicht, dass er fast ein Jahr hier verbringen wird.

Andreas Heidtmann schafft es, seinem Ich-Erzähler so viele kleine Geschichten und Szenen – tragische, irrwitzige, komische – abzulauschen, dass sich alle, die sich unabhängig vom Alter noch nicht daran gewöhnt haben, einen nostalgischen Schleier über die eigene Vergangenheit zu breiten, darin wiederfinden können, was übrigens nicht nur nett und angenehm sein muss. Nicht unbedingt ein Buch zum behaglichen Schmökern, sondern eher ein Wachmacher, der einen mit einem liebevollen Klaps auf den Hinterkopf in die Vergangenheit katapultiert, wenn man die Zeit noch selbst erlebt hat, oder, wenn man noch jung ist, anerkennend sagen lassen dürfte: Genau. So isses.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Frankfurter Verlagsanstalt, 2024
Seiten
320
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-627-00322-7
Preis
24,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Andreas Heidtmann wurde 1961 am Niederrhein geboren und wuchs zwischen Ruhrgebiet und Münsterland auf. An der Kölner Musikhochschule studierte er Klavier und anschließend Germanistik in Berlin. Er arbeitete als Lektor und gründete in Leipzig das literarische Webportal »poetenladen«, aus dem der »poetenladen Verlag« als erfolgreicher Independent-Verlag erwuchs. Heidtmann wurde mit dem Hermann-Hesse-Preis, dem Lessing-Förderpreis, dem Kurt-Wolff-Förderpreis und mehrfach mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet. 2020 erschien sein Roman »Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde« und 2023 »Plötzlich waren wir sterblich«.

Zum Buch:

Als der etwa sechzehn- oder siebzehnjährige Ben das Franziskanerkolleg am Rande des Ruhrgebiets betritt, in dem er so lange wohnen soll, bis seine Mutter wieder aus der Psychiatrie kommt, ist er eigentlich ganz angenehm überrascht. Sicher, ein bisschen viel ist es schon: Die Kreuze, das „Letzte Abendmahl“ an der Wand des Refektoriums, die Franziskusstatuen, die rätselhafte Aufforderung an der Wand – „Nehmt nichts mit auf den Weg, keinen Wanderstab und keine Vorratstasche, kein Brot, kein Geld und kein zweites Hemd“ -, aber das Zimmer ist ok, trotz der trüben Aussicht aus dem Fenster. Er weiß noch nicht, dass er fast ein Jahr hier verbringen wird – genauer gesagt bis zum Abriss des Klosterkomplexes samt Kirche, der von den „minderen Brüdern“ des heiligen Franziskus für teuer Geld an die Stadt verkauft wird, um einer Woolworth-Filiale Platz zu machen. Und er weiß auch nicht, wie ereignisreich dieses Jahr sein wird. Er weiß nur, dass es ein Musikzimmer mit einem Flügel gibt, den er benutzen und an dem er sich austoben kann, und das scheint ihm beruhigend.

Ben bzw. sein Autor nimmt uns mit auf eine Zeitreise in die siebziger Jahre im noch einigermaßen prosperierenden Ruhrgebiet – noch schmutzig, noch vermüllt, mit dreckigen Flüssen und verschlammten Tümpeln, die als „Erholungsgebiete“ durchgehen, aber auch schon hoffnungslos, jedenfalls wenn man jung ist. Eine Zeitreise, die all diejenigen, die diese Zeit erlebt haben, mit wiedererkennendem Grinsen, Seufzen, Haareraufen und erinnerter Verzweiflung begleiten werden und jüngeren vor Augen führen kann, dass früher weiß Gott nicht „alles besser“, sondern vieles sehr ähnlich war wie heute.

Etwa die Tristesse einer Jugendzeit zwischen kommunikationsunfähigen Erwachsenen und alten Freunden, denen man eigentlich entwachsen ist, denen man aber auch nicht entgehen kann – schließlich kennt man sich seit Kindertagen durch und durch und ist entsprechend zur Solidarität verpflichtet, und sei es nur beim gemeinsamen Besäufnis. Die weit entfernte Freundin, der man nur schreiben und die man nur selten anrufen kann, weil das Telefon von Pater Albert bewacht wird, und der bemisst die Gesprächsminuten je nach der Menge der Ritter-Sport-Schokoladentafeln, die man ihm zusteckt. Die Scham über die Unzulänglichkeiten und Marotten der eigenen Eltern, wenn man sie der Freundin vorstellen soll. Und dagegen dann der Rausch, den neben Alkohol und Kiffen vor allem die Musik auslöst, ob klassisch ins Klavier gehämmert oder bei selbstgemachten Songs in der eigenen Rockband.

Andreas Heidtmann schafft es, seinem Ich-Erzähler so viele kleine Geschichten und Szenen – tragische, irrwitzige, komische – abzulauschen, dass sich alle, die sich unabhängig vom Alter noch nicht daran gewöhnt haben, einen nostalgischen Schleier über die eigene Vergangenheit zu breiten, darin wiederfinden können, was übrigens nicht nur nett und angenehm sein muss. Nicht unbedingt ein Buch zum behaglichen Schmökern, sondern eher ein Wachmacher, der einen mit einem liebevollen Klaps auf den Hinterkopf in die Vergangenheit katapultiert, wenn man die Zeit noch selbst erlebt hat, oder, wenn man noch jung ist, anerkennend sagen lassen dürfte: Genau. So isses.

Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.