Zum Buch:
Im Oktober 2003 übernahmen die Bewohner von El Alto, der Aymara-geprägten Großstadt nahe La Paz (Bolivien), durch Nachbarschaftsräte oder andere Instanzen die Stadtteilregierungen und ersetzten damit die staatlichen Strukturen, die ihre Legitimität verloren hatten und von der Bildfläche verschwunden waren. Zibechi, uruguayischer Journalist und Autor zahlreicher Bücher über neue soziale Bewegungen in Lateinamerika, rekonstruiert die Entwicklungen, die dazu geführt haben, mit dem Sturz des bolivianischen Präsidenten Losada endeten und schließlich auch den Wahlsieg von Evo Morales förderten. Wie löst die soziale Mobilisierung die Institutionen auf sowohl die staatlichen als auch die der Parteien und Gewerkschaften? Die Antwort findet Zibechi in der Ausdehnung der kommunitären Entscheidungs- und Aktionsformen und in der zentralen Rolle der nachbarschaftlichen Gemeinschaft. Die indigene Tradition, wie sie etwa in den altandinen “ayllus” praktiziert wurde, findet sich hier ebenso wie die Erfahrung der Migranten in den modernen Großstädten. Die neue Form der politischen Einflussnahme ohne herkömmliche Institutionen, die der Autor entstehen sieht, kommt etwa in der nichtstaatlichen kommunitären Justiz zum Ausdruck, da das Weltbild der Aymara weder zwischen politischen und juristischen Autoritäten noch zwischen realer Welt und religiös-rituellem Kosmos trennt. Im politischen Raum bleibt, “abgesehen vom Wunsch, den bolivianischen Staat zu zerstören, der Rest im Ungewissen” (S.144). “Die Befehlsgewalt”, so zitiert der Autor den bolivianischen Vizepräsidenten Álvaro García Linera, “wird jeden Tag neu ausgehandelt und hängt von den verschiedenen kommunitären Blöcken ab, die gekommen sind. Es gibt keine Befehlsgewalt und kein Kommando. Diese Denkweise ist sehr antistaatlich” (S.145). Eine anregende Studie, gut recherchiert und lebendig geschrieben.
Christoph Dietz (Bücher zu Lateinamerika)