Zum Buch:
Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise 2001/2002 besetzten argentinische ArbeiterInnen rund 160 insolvente oder von den Eigentümern aufgegebene Unternehmen, um die Produktion weiterzuführen. In ihrer Arbeit begreift Kristina Hille die besetzten Betriebe (empresas recuperadas), in denen knapp 10.000 KollegInnen beschäftigt sind, als soziale Bewegung und untersucht, vor welchem Hintergrund diese agiert und mit welchen Problemen und Widersprüchen sie konfrontiert ist. Dass es in Argentinien deutlich mehr empresas recuperadas als in anderen krisengeplagten Ländern etwa dem benachbarten Uruguay gibt, erklärt sie schlüssig mit der peronistischen Geschichte. Die Verstaatlichung und Weiterführung bankrotter Betriebe hat dort eine gewisse Tradition. Das geltende Gesetz kriminalisiert die Besetzung eines insolventen Unternehmens nicht automatisch, sondern betrachtet die Weiterführung der Produktion unter der Regie der Belegschaften als mögliche Option im Insolvenzverfahren. Da die weiteren gesetzlichen Regelungen, insbesondere was die langfristige Übertragung an die Beschäftigten und die Entschädigung der früheren EigentümerInnen angeht, nicht eindeutig sind, eröffnet dies Politikern und Parteien große Möglichkeiten der Kooption der Belegschaften. Eine Chance auf langfristige Nutzungsrechte oder einen Eigentumstitel bietet man denjenigen Belegschaften, die sich den entsprechenden Politikern und Parteien vor allem der peronistischen PJ andienen. Dies befördert die Korruption und stärkt zwielichtige Figuren wie den autoritären Anwalt Luis Caro, der vor allem wegen seiner Verbindungen zu peronistischen Politikern eine Schlüsselgestalt in der Bewegung der empresas recuperadas werden konnte. Weiteres Potential, um besetzte Betriebe abhängig zu machen, bietet die Notwendigkeit des Zugangs zu Krediten, die die Betreibe zur Weiterführung der Produktion benötigen. All dies begrenzt natürlich das emanzipatorische Potential der empresas recuperadas. In Teilen der Lateinamerikaszene wurden Argentiniens besetzte Betriebe lange Zeit stark glorifiziert und eigene Träume von selbst verwaltetem Arbeiten auf sie projiziert. Das Buch von Hille ist in diesem Zusammenhang eine sehr nützliche Lektüre, weil es zeigt, was die besetzten Betriebe sein können, nämlich eine Möglichkeit der Selbsthilfe von sonst Erwerbslosen, und was sie in der Regel nicht sind, nämlich Keimzellen einer neuen, antikapitalistischen Gesellschaft.
Gert Eisenbürger (Bücher zu Lateinamerika)