Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Akerman, Chantal

Meine Mutter lacht

Untertitel
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Beschreibung

Chantal Akermans literarisches Werk umfasst vier Bücher. 2013 erscheint ihre letzte Arbeit, im französischen Original: Ma mére rit. Acht Jahre später nun liegt im Diaphanes Verlag die erste deutsche Übersetzung vor, übertragen von Claudia Steinitz.

Unter den düsteren Vorzeichen verschiedener Krankheiten und marternder Operationen schien es lange Zeit, als müsse Akerman sich von ihrer Mutter verabschieden und sich ein Leben ohne sie vorstellen. Im Buch wissen wir nach wenigen Worten, dass die Mutter überlebt. Umso bemerkenswerter ist es, dass Akerman es schafft, uns im Ungewissen, in jenem fragilen Zwischenraum zu halten, der von Leben und Tod umklammert wird. Vielleicht kann sich ja auch nur so das Wesen des Buches zeigen: Es ist die Hoffnung, trotz allem.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Diaphanes Verlag, 2022
Format
Seiten
208 Seiten
ISBN/EAN
9783035805512
Preis
22,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Chantal Akerman (1950-2015) war eine belgische Filmregisseurin, Autorin und Künstlerin. Ihr international breit rezipiertes Werk von mehr als 40 Kurz- und Langfilmen brach durch eine völlig neuen Bildsprache mit dem gewohnten Erzählkino. In ihren häufig Frauen porträtierenden Filmen werden Dokumentarisches und Fiktion, Komisches und Tragisches, Selbsterfahrung und Fremderkundung mit einer sanften Rigorosität behandelt. Ein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter und kurz nachdem sie ihren ebenfalls ihrer Mutter gewidmeten Dokumentarfilm No Home Movie (2014) beim Festival von Locarno präsentiert hatte, nahm Chantal Akerman sich das Leben.

Zum Buch:

Chantal Akermans literarisches Werk umfasst vier Bücher. 2013 erscheint ihre letzte Arbeit, im französischen Original: Ma mére rit. Acht Jahre später nun liegt im Diaphanes Verlag die erste deutsche Übersetzung vor, übertragen von Claudia Steinitz.

Der unmittelbare Einstieg in Meine Mutter lacht verwundert – „Ich habe das alles geschrieben, und nun mag ich nicht mehr, was ich geschrieben habe“ –, markiert aber dann im folgenden Satz den Ausgangspunkt der vorliegenden Aufzeichnungen: das Überleben der Mutter.

Unter den düsteren Vorzeichen verschiedener Krankheiten und marternder Operationen schien es lange Zeit, als müsse Akerman sich von ihrer Mutter verabschieden und sich ein Leben ohne sie vorstellen. Doch die Mutter lebt, hat überlebt. Da die Fünfundachtzigjährige aber pflegebedürftig ist, entscheidet die Familie, sie solle von Mexiko zurück nach Brüssel ziehen, in die Stadt, in der ihre Tochter Chantal aufgewachsen ist. Auch Akerman, die indes in Paris und New York wohnt, kann ihre Mutter nun wieder häufiger sehen. Durch die jahrelange Distanz jedoch ist das gegenseitige Verhältnis ein kompliziertes. Wir, als Lesende, sehen eine Beziehung, die sich entlang von Sprachlosigkeit, Unverständnis, Hilflosigkeit, Annäherung, Empathie, Freude, Liebe bewegt.

Durch diese Facetten reflektiert Akerman aber nicht nur das Verhältnis zur Mutter, sondern auch andere Aspekte des Lebens: sie blickt auf ihre Kindheit, ihre Arbeit, ihre Depression, ihre Homosexualität, und sie blickt auf die verzehrende Beziehung zu C. Dass dabei immer wieder Fotos in den Text eingefügt werden, verstärkt die Betrachtungen und liefert zugleich autobiographische Zeugnisse. So entsteht ein Netz aus verschiedenen Augenblicken und Stimmen, Ereignissen und Begegnungen, in denen die zeitliche Kontinuität nebensächlich wird. Aber wir verlieren uns nicht. Denn die Beziehung zur Mutter fungiert als unverrückbarer Bezugspunkt, an dem die unterschiedlichen Erzählstränge zusammenkommen. Zudem werden wir von Akermans Sprache geführt: Sie ist klar und konzise. Sie spart aus. Im Verzicht auf Stilmittel gelingt es der Autorin so, den Rhythmus des Textes präsent werden zu lassen. Es wird eine Bewegung vorgegeben, die das Tumultuöse einer Leidenschaft ebenso wie die Begeisterung unbeschwerter Momente darzustellen vermag.

Chantal Akermans cineastisches Werk umfasst mehr als vierzig Filme. 2015 läuft Akermans letzter Film an: No Home Movie. Die Protagonistin der dokumentarischen Arbeit ist auch hier Akermans Mutter. In der intimen Atmosphäre kaum bewohnter Räume spricht sie von ihrer Zeit in Auschwitz und davon, wie sie die Shoah überlebte, wie sie von Polen nach Belgien zog, wie sie sich mit Akermans Vater ein Leben aufbaute, das beendet schien. Es ist der Versuch, eine Sprache für das Unaussprechliche zu finden.

Auch wenn wir in Meine Mutter lacht von diesem Teil der (Familien-) Geschichte nur flüchtig erfahren, erkennen wir in beiden Arbeiten, der filmischen und der literarischen, den unmessbaren Wert, den die Mutter im Leben ihrer Tochter hat: „Ich versuche, mir mich ohne sie vorzustellen. Und ich denke, das wird gehen. Nicht für sie. Für mich. Oder das Gegenteil.“

Wie groß die Liebe zur Mutter letztlich war, zeigt sich noch im selben Jahr. Drei Wochen nach der Premiere von No Home Movie und kurz nach dem Tod der Mutter nimmt sich Chantal Akerman das Leben, weil sie den Verlustschmerz nicht durchhält.

Im Buch wissen wir nach wenigen Worten, dass die Mutter überlebt. Umso bemerkenswerter ist es, dass Akerman es schafft, uns im Ungewissen, in jenem fragilen Zwischenraum zu halten, der von Leben und Tod umklammert wird. Vielleicht kann sich ja auch nur so das Wesen des Buches zeigen: Es ist die Hoffnung, trotz allem.

Felix Spangenberg, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt