Zum Buch:
“Alles begann mit zwei Händen und einem Tausch. Ich war damals ungefähr sechs Jahre alt.” Die eine Hand bei diesem Geschäft gehört Tuonamis Vater; sie nimmt. Die andere Hand ist die von “Tante Caro”, einer Kinderhändlerin aus der Stadt; sie gibt – 15.000 FCFA, ca. 23 Euro – der Preis für ein Kind vom Land, dessen Status als Ware und Zukunft als Sklave damit besiegelt sind.
Im Mittelpunkt dieses aufwühlenden Romans stehen Toumani und Alissa, zwei als Sklaven verkaufte Kinder, und der etwas ältere Iman. Auf Alissa trifft Toumani das erste Mal im Haus von Tante Caro. Alissa ist ihre Haussklavin und etwas älter als der kleine, zutiefst verängstigte, aber auch neugierige Toumani, der in seiner Einsamkeit und Verzweiflung in dem Mädchen auf kurze Zeit eine Verbündete findet. Es sollen etliche Jahre vergehen, bevor sich die beiden wiedersehen. Toumanis Martyrium beginnt mit der Übergabe an seinen neuen Herrn. Es ist eine von Gewaltverhältnissen geprägte Gesellschaft, die uns in diesem vielstimmigen und vielschichtigen Buch gezeigt wird. Die Gewalt hat verschiedene Gesichter: sexuelle Gewalt, auch in den Familien, kriminelle Gewalt der Straße, strukturelle und körperliche Gewalt, die von den staatlichen Autoritäten wie Polizei und Militär ausgeübt wird. In diesem Umfeld wird der schwer verletzte, fast zu Tode geprügelte Toumani nur durch Zufall von Iman gerettet und in ein Krankenhaus gebracht. Iman selbst lebt auf der Straße, seitdem er vor seinem gewalttätigen Stiefvater geflohen ist. Er kümmert sich trotzdem fortan um den jüngeren Toumani. Der ist ihm unendlich dankbar, bewundert den Älteren und fasst Vertrauen. Es entsteht eine ungleiche Freundschaft. Während Toumani Iman fast schon verehrt und ständig seine Nähe sucht, hilft der ihm zwar, wo er kann, bleibt dabei jedoch distanziert und geheimnisvoll, denn er verfolgt eigene Ziele: Iman möchte weg aus seinem Land, weg aus Afrika. Europa ist sein großer Traum, dorthin möchte er, egal zu welchem Preis. Toumani hat bescheidenere Wünsche, insbesondere, seit er Alissa wiedergetroffen und sich in sie verliebt hat. Imans Auswanderungspläne machen Toumani Angst. Er wird deshalb Dinge tun, die für alle drei Beteiligten furchtbare Konsequenzen haben.
In elf Kapiteln, die aus wechselnden Perspektiven und von verschiedenen Personen erzählt werden, zeichnet Ryad Assani-Razaki ein differenziertes Bild der Lebensumstände von Menschen in einem nicht näher bezeichneten westafrikanischen Land. Seine Protagonisten fungieren als allegorische Charaktere. Wir lernen ihre Wünsche und Ziele kennen, ihre Hoffnungen und die Misere ihres Alltags. Das wirkt manchmal didaktisch, schmälert die Qualität des Buches aber nur wenig. Es gelingt dem Autor, die verschiedenen Strategien im täglichen (Über-)Lebenskampf der Menschen plausibel zu machen. Viele sind verängstigt, gebrochen oder traumatisiert, die wenigsten glauben noch an die Möglichkeit eines besseren Lebens. “Iman” ist ein kluges und wichtiges Buch, das die Geschehnisse, Gedanken und Emotionen seiner Protagonisten vermittelt, sie aber niemals bewertet. Die moralische Entrüstung überlässt der Autor den Leserinnen und Lesern in der Festung Europa.
Ralph Wagner, Ypsilon Buchladen&Café, Frankfurt