Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Appelfeld, Aharon

Sommernächte

Untertitel
Roman. Übersetzt von Gundula Schiffer
Beschreibung

Michaels Eltern sind Juden, sie leben in einem kleinen Ort in der Ukraine. Eines Tages bringt der Vater den elfjährigen Michael zu einem fremden Mann, den er “Großvater Sergej” nennt, und sagt: “Ich vertraue dir meinen Sohn an. Gib auf ihn acht, mein Lieber.” Und zu Michael: “Tu, was Großvater Sergej dir sagt. Das hier geht vorüber, und danach kehren wir heim.” Dann geht er. Von da an wird der elfjährige Michael als Sergejs Enkel gelten, Janek heißen, alte Kleider tragen und mit ihm ein Leben als Landstreicher führen. Denn der Vater ist sicher, dass sein Kind nur mit Sergejs Hilfe den Krieg und die Verfolgung der Juden wird überleben können. Sergej ist zwar blind, aber kräftig und schlau, und vor allem – er ist Christ.

Sommernächte ist eines der letzten Bücher des mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten, 2018 mit weit über achtzig Jahren verstorbenen israelischen Schriftstellers Aharon Appelfeld und, wenn auch wahrscheinlich nicht in den konkreten Ereignissen, so doch in der grundlegenden Situation des sich unter Christen versteckenden Kindes autobiographisch geprägt.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Rowohlt Berlin, 2022
Format
Gebunden
Seiten
224 Seiten
ISBN/EAN
978-3-7371-0124-0
Preis
22,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Aharon Appelfeld wurde 1932 in Czernowitz geboren, er starb 2018 bei Tel Aviv. Nach Verfolgung und Krieg, die er im Ghetto, im Lager, dann in den ukrainischen Wäldern und als Küchenjunge der Roten Armee überlebte, kam er 1946 nach Palästina. In Israel wurde er später Professor für Literatur. Seine Romane und Erinnerungen, unter anderem mit dem Prix Médicis und dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnet, sind in mehr als fünfunddreißig Sprachen erschienen, auf Deutsch zuletzt «Meine Eltern».

Zum Buch:

Michaels Eltern sind Juden, sie leben in einem kleinen Ort in der Ukraine. Eines Tages bringt der Vater den elfjährigen Michael zu einem fremden Mann, den er “Großvater Sergej” nennt, und sagt: “Ich vertraue dir meinen Sohn an. Gib auf ihn acht, mein Lieber.” Und zu Michael: “Tu, was Großvater Sergej dir sagt. Das hier geht vorüber, und danach kehren wir heim.” Dann geht er. Michael wird künftig als Sergejs Enkel gelten, Janek heißen und alte Kleider tragen. Beide werden ein Leben als Landstreicher führen. Denn der Vater ist sicher, dass sein Kind nur mit Sergejs Hilfe den Krieg und die Verfolgung der Juden wird überleben können. Sergej ist zwar blind, aber kräftig und schlau, und vor allem – er ist Christ.

Lange zieht das ungleiche Paar durch das Land und die Dörfer, lebt von dem, was man in der Natur sammeln kann und was ihnen von freundlichen Menschen gegeben wird. In seiner neuen Identität ist Janek zwar nicht im Visier der Deutschen, aber Landstreicher sind vielen der Dorfbewohner verhasst. Oft müssen sie sich gegen Angreifer wehren, die ihnen das wenige stehlen wollen, was sie mit sich führen, oder sie werden vertrieben. Janek sorgt für die alltäglichen Verrichtungen, kocht, wäscht, versucht für das wenige Geld, das sie haben, Lebensmittel zu kaufen. Sergej, der vor seiner Erblindung in dem Holzlager von Janeks Vater gearbeitet hat, war in jüngeren Jahren Kommandant einer auf Rettungseinsätze spezialisierten Eliteeinheit der Armee. Dieses Wissen – die körperliche Ertüchtigung, die Disziplin – gibt er an Janek weiter, lehrt ihn, Angst zu überwinden, Hunger und Kälte zu ertragen. Und so entwickelt sich Janek im Laufe der Erzählung zu einem kräftigen, mutigen Jungen. Sergej ist gläubiger Christ – was ihn nicht hindert, kräftig zu fluchen oder sich in Händel zu stürzen, um Janek und sich oder andere Bedrängte zu verteidigen. Es ist ein hartes Leben, Sergej lehrt Janek, den Moment zu schätzen, das Schöne darin zu erkennen und der Grobheit und den Gefahren um sie herum etwas entgegenzusetzen. Im letzten Absatz des Romans wird deutlich, dass Janek die von Sergej gelernten Fähigkeiten auch nach dem Ende des Krieges zum Weiterleben noch brauchen wird.

Sommernächte ist eines der letzten Bücher des mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten, 2018 mit weit über achtzig Jahren verstorbenen, israelischen Schriftstellers Aharon Appelfeld und, wenn auch wahrscheinlich nicht in den konkreten Ereignissen, so doch in der grundlegenden Situation des sich unter Christen versteckenden Kindes autobiographisch geprägt.

Das Buch ist eine eigenwillige Lektüre, die Sprache ist trügerisch schlicht und der Inhalt gradlinig erzählt. Der Krieg wird, bis auf Janeks Fragen, ob er seine Eltern wiedersehen wird, wenig thematisiert, was dem Geschehen etwas schwebend Zeitloses gibt. Einzig das näherkommende Grollen am Horizont kündet vom sehnlichst erwarteten Kommen der Roten Armee. An keiner Stelle des Textes ist der Erzähler schlauer oder reflektierter als Janek, und so wird das, was diesem hilft, die Jahre des Umherziehens zu überleben – Sergejs Vertrauen in Gott und die militärischen Tugenden – an keiner Stelle in Frage gestellt. Zugleich erinnert die Struktur des Textes – nicht inhaltlich aber stilistisch – an Stifters späte Romane, deren Sprache von formelhaften Wiederholungen in der Handlung und einem rhythmischen, schlichten Ton geprägt sind und einen ganz eigenen Sog entwickeln.

Ruth Roebke, Frankfurt a. M.