Zum Buch:
Menschen sind Weggefährten, auf die man sich nicht verlassen kann. Manchmal auch auf sich selbst nicht, wie Sune weiß. Der fast Vierzigjährige lebt in den Wäldern Nordnorwegens das Leben eines Aussteigers, der die Einsamkeit sucht. Als eine junge, schwer verletzte Vietnamesin um die Hütte streicht, in der er sich gerade aufhält, versorgt er sie. Sie spricht nicht, noch nicht. In Ingvar Ambjørnsens neuem Roman nähern sich die Menschen einander vorsichtig. Und je mehr man liest, umso mehr wünscht man sich, dass es in der Wirklichkeit auch so sein könnte.
Sunes Wirklichkeit sieht anders aus als die vieler Menschen, die sich gar nicht vorstellen können, anders zu leben als in der Zivilisation, der Stadt. Manchmal hilft Sune seiner veränderten Wirklichkeitswahrnehmung noch ein bisschen nach – mit Drogen, die gerade in der Gemeinschaft der Aussteiger kursieren, oder mit Psilocyben, Pilzen, die halluzinatorische Zustände hervorrufen. Dann sind seine Gedanken geträumte Poesie, die fliegt, Bilder, die alles in sich vereinen, Menschen, Natur, Steine, Dunkelheit, Weihnachtsbier und Tod.
Es gibt viele, die in diesem Landstrich so leben, von einem Tag zum nächsten, in der Abgeschiedenheit der Natur; sie versorgen sich selbst, auch medizinisch und unterstützen einander; jeder macht die Arbeiten, die er am besten kann. Es gibt nichts, was zur falschen Zeit geschieht, denn die Regeln, die sich diese Illegalen, Aussteiger, Einzelgänger geschaffen haben, sind nicht von Raum und Zeit bestimmt.
Aber Sune sucht ihre Gesellschaft nicht oft. Zu viele Menschen machen ihn unruhig. Dann ist er nicht mehr Herr seiner Sinne. Dabei sind seine Sinne vom Leben in der Natur geschärft. Er kann Menschen in der Natur spüren, auch wenn sie für ihn noch nicht zu sehen sind, er wittert sie, wie ein Tier. Er kann unterscheiden zwischen einer konkreten, feinen, scharfen Angst und irrationaler Furcht, die ein Wesen überfällt. Sein eigenes Empfinden hält sich so wenig an Regeln wie seine Sprache – kochendkalt kann man in eine Hütte treten, durchgefroren und heiß zugleich.
Die einundzwanzigjährige Vietnamesin nennt er Vale. Er versteckt sie. Denn sie hat einen Mann getötet und einen schwer verletzt. Vale heißt auf Lateinisch Lebewohl. Sune ist ein gebildeter Mann, ein empfindsamer, einer, der sich unter Menschen so verloren fühlt wie ein Stadtmensch im Wald. Ingvar Ambjørnsen versteht es meisterlich, seinen Lesern dieses andere Erleben nahe zu bringen. Und Gabriele Haefs hat Ambjørnsens Bilder in der deutschen Übersetzung unglaublich präzise eingefangen.
Susanne Rikl, München