Zum Buch:
Ein Mann um die Fünfzig spaziert mit Koffer und Hut aus seinem alten Leben und beginnt ein neues auf einer kleinen Insel im Nordwesten Norwegens. Ingvar Ambjørnsens neuer Roman erzählt auf höchst poetische Weise, dass wir vor unserem Selbst nicht fliehen können – und wie gut es ist, dass das so ist.
Man erfährt nicht viel von dem früheren Leben dieses Ulf Vågsvik, der an einem Frühlingstag den Strand von Vaksøy entlang wandert und auf dem Weg zu seiner Brieffreundin Berit in einen Hagelsturm gerät. Ein schönes Leben kann es nicht gewesen sein. Eher eines, aus dem er immer wieder fliehen musste, den Oridongo hinauf, in eine Parallelwelt, die er sich selbst geschaffen und die ihn immer wieder gerettet hat. Ulf Vågsvik ist kein gesprächiger Mann, eher ein Einzelgänger. Das kommt ihm auf der Insel zugute. Denn hier kennen sich alle von Geburt an und er wird immer ein Fremder bleiben, auch wenn er bei Berit in die Fußstapfen ihres verstorbenen Mannes Magne treten darf.
Als auf der Insel neue Bewohner erwartet werden, richtet die Inselgemeinschaft für die Familie aus den Niederlanden das alte Schulhaus her. Vågsvik wird gefragt, ob er bereit sei, am Empfangsabend ein Interview über seine ersten Eindrücke von Vaksøy und den Inselbewohnern zu geben. Zuerst unwillig, stellt er sich dieser Aufgabe schließlich ganz bewusst. Es wird aber nicht dazu kommen, denn der Empfang endet für die neue Familie mit einer Tragödie. Gleich darauf verschwindet der Sohn der Niederländer. Fünf Tage bleibt er verschollen. Man rechnet nicht mehr damit, ihn lebend zu finden. Vågsvik ist derjenige, der ihn aufliest. Und er wird über Wochen der einzige sein, der Verbindung zu ihm aufnehmen kann. Er erzählt ihm von einer Schiffsreise, den Oridongo hinauf.
Jetzt brauchen Sie den Roman eigentlich nicht mehr zu lesen, denn ich habe ja schon alles erzählt. So ist es aber nicht. Ambjørnsen hat seine Leser im Kopf von Ulf Vågsvik installiert. Die Spannung von Beredsamkeit und Verschlossenheit, von empfundenen und nicht geäußerten Gefühlen bringt den Roman zum Schwingen. Das ist das eine. Das andere sind die ungeheuer starken Naturbilder. Lyrisch, archaisch, so wie ich mir diesen Ulf Vågsvik vorstelle, einen Mann mit vielen Geheimnissen.
Susanne Rikl, München