Zum Buch:
An seinem Geburtstag stand die Sonne der Erde meist näher als an jedem anderen Tag des Jahres. Sechs Jahre nach Gerhard Amanshausers Tod hat der Sohn des österreichischen Schriftstellers dessen Tagebucheinträge von 1964 bis 1998 in einer Auswahl zusammengefasst. Sie lesen sich wie bewusst gesetzte, sachte Pinselstriche auf Reispapier, ein kalligraphiertes Leben.
Auf 400 Seiten begegnet man ihnen allen, den Lebenden wie den Toten: Meckel, Reich-Ranicki, Aichinger, Kunze, Aigner, Fühmann, auch Bachmann, Frisch, Kästner, Tucholsky, nicht nur Literaten, sondern auch Künstlern, Kunstsammlern und Zeitgenossen, die zu Amanshausers Umfeld gehörten. Niemand, mit dem er sich brüsten wollte, denn Amanshauser war das Auffallen unangenehm. Wunderbar zu lesen sind sie, die kurzen Anekdoten, Bemerkungen, Kommentare oder Vergleiche, so treffend wie höflich, auch sich selbst gegenüber. Fast zärtlich die Beschreibungen des Gartens und der Natur, die Beobachtungen der Gestirne am Himmel, egal, wo Amanshauser sich gerade aufhielt. Seine Aufzeichnungen aus mehr als drei Jahrzehnten sind Szenetagebuch, Reisetagebuch, Gartentagebuch und Freundschaftstagebuch in einem – ständig wechselnde Themen in wiederkehrenden Jahreszeiten mit immer neuen, feinen Beobachtungen. Ein Buch, in dem man sich aufhalten kann, lesend, blätternd, wie es einem gerade gefällt.
Diese posthum edierten Tagebücher sind ein Geheimtipp. Auch Amanshausers zu Lebzeiten veröffentlichte Werke haben ihn nicht über die Maßen bekannt gemacht. Das mag daran liegen, dass er seine Leser nie fesseln wollte, sondern ihnen ganz bewusst in jedem Buch erneut die Freiheit schenkte, in seinen Gedanken spazieren zu gehen. So, wie er in seinem Garten und in der Welt umher ging. Ich habe ihn zu lange nicht gekannt und bedaure das sehr. Jetzt werde ich sein Mansardenbuch noch einmal lesen. Oder das Terrassenbuch. Oder beide gleichzeitig.
Susanne Rikl, München