Zum Buch:
In einer Nacht des Jahres 1903 überfallen Banditen ein Dorf in Anatolien und töten einen Mann und seine Frau. Als der Landrat Salâhattin Bey am nächsten Tag mit dem Amtsarzt und der Polizei eintrifft, findet er neben dem toten Ehepaar dessen etwa 10jährigen Sohn Yusuf vor, der offensichtlich die Totenwache bei seinen Eltern hält. Der Landrat ist von der sachlichen Ruhe des Jungen so beeindruckt, dass er ihn zu sich nimmt und als seinen Sohn erzieht, sehr zum Unwillen seiner egozentrischen und kaltherzigen Frau Şahinde. Yusuf fügt sich äußerlich in das Leben der Kleinstadt ein, bleibt aber distanziert und hält sich von den Vergnügungen seiner Kameraden fern. Dafür kümmert er sich rührend um die kleine Muazzez, Salâhattin Beys Tochter, die schon bald wie eine Klette an ihm hängt. Yusuf verlässt schon nach kurzer Zeit die Schule und arbeitet stattdessen im Olivenhain seines Ziehvaters. Was aus ihm werden soll, weiß er nicht, aber eins ist ihm klar: er will sein eigener Herr sein, unabhängig bleiben und seinen eigenen Weg ins Leben finden. Das aber ist in einer anatolischen Kleinstadt zur Zeit der Erzählung fast unmöglich, zu eng sind die Beziehungen zwischen den Bewohnern, zu hierarchisch die Strukturen und zu korrupt die Beamten. Und da Yusuf entschlossen ist, stets seinem Gerechtigkeitsgefühl zu folgen, legt er sich schon bald mit den Söhnen der Honoratioren des Städtchens an. Als er erfährt, dass seine Ziehmutter entschlossen ist, ihre schöne Tochter Muazzez ausgerechnet mit dem reichen Şakir zu verheiraten, obwohl sie dessen brutalen Charakter kennt, greift er ohne Zögern ein – mit unabsehbaren Folgen.
Sabahattin Ali zeichnet in seinem Romanerstling ein so realistisches wie erschreckendes Bild einer türkischen Kleinstadt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. In der geradezu festgemeißelten sozialen Struktur wird Anpassung gefordert und jeder Ausbruchsversuch, sei er physisch oder psychisch, gnadenlos geahndet. Die kleinstädtische „Oberschicht“ kann machen, was sie will; wenn der verwöhnte reiche Sohn bei einem Dorffest seinen unbewaffneten Rivalen über den Haufen schießt, gibt es zwar jede Menge Zeugen, aber gesehen hat natürlich niemand etwas. Wer Geld hat, hat Macht, wer arm ist, wird gnadenlos ausgebeutet. Die einzigen Fluchtmöglichkeiten für die Männer bietet der Raki – die Frauen werden entweder „wie Haustiere gehalten“ oder sind Freiwild für die Jeunesse Dorée. In dieser erstickenden Enge kämpft der Protagonist mit aller Kraft um seine Identität und Integrität – und kann doch nur scheitern. Dass der Roman trotzdem nicht nur düster ist, dafür sorgen Alis Sarkasmus, seine bilderreiche Sprache, die atemberaubenden Landschaftsbeschreibungen und die hochdramatische Liebesgeschichte. Da schadet es wenig, dass man dem Buch streckenweise seine Entstehungsgeschichte als Fortsetzungsroman für eine Zeitung ein wenig zu deutlich anmerkt, denn die Mängel im Aufbau werden durch die sprachliche Kunst und die atemberaubende Fülle der spannenden Episoden mehr als wettgemacht. Wer wie ich außer Orhan Pamuk kaum türkische Autoren kennt, wird „Yusuf“ mit großem Gewinn lesen – und wer noch Lesestoff für den Mittelmeerurlaub sucht, ist mit Ali bestens bedient.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main