Zum Buch:
“Vor Jahren, vor Ewigkeiten war Folgendes passiert: In einer mondlosen Nacht hatten Rey und ein paar Freunde einige Schnäpse gekippt und dann die Schulfassade als Zielscheibe benutzt, um ihre Treffsicherheit zu testen, Steine gegen Backstein und Glas. Sie waren betrunken und übermütig, Jungen eben, die Faxen machten. Doch in derselben Nacht passierte noch etwas: Im Büro des Bürgermeisters explodierte eine kleine selbst gebastelte Bombe. Das war die Vorgeschichte des Krieges, seine unnatürliche Geburt mehr als ein Jahrzehnt, bevor die Kämpfe ernst wurden. In einer entlegenen Stadt, in einem Land, das bisher an so etwas nicht gewöhnt war.”
Damals war Rey dreizehn und machte seine ersten Erfahrungen mit dem Gefängnis. Zu dem Zeitpunkt, als die Romanhandlung einsetzt und der endlose Bürgerkrieg – offiziell – vorbei ist, ist er seit zehn Jahren verschwunden. Seine Frau, die im ganzen Land wegen ihrer wunderschönen Stimme bekannte Radiomoderatorin Norma, wartet immer noch auf ihn, obwohl sie kaum noch Hoffnung auf ein Wiedersehen hat. Normas Radiosendung, “Lost City Radio”, gibt der Bevölkerung die Chance, in einem Land, das die Traumata des Bürgerkrieges offiziell beschweigt, die Namen verschwundener Angehöriger und Freunde öffentlich zu nennen, über sie und damit auch über das eigene Schicksal zu sprechen. Eines Tages kommt der elfjährige Viktor in den Sender, der nach dem Tod seiner Mutter von den Dorfbewohnern in die Stadt geschickt wird, um Norma eine Liste mit all den Verschwundenen aus seinem Dorf zu übergeben, die sie in ihrer Sendung verlesen soll, weniger in der Hoffnung auf ein Lebenszeichen als um ihre Existenz zu bestätigen. Als Norma erfährt, dass Rey Viktors Vater ist, macht sie sich daran, die Bruchstücke ihrer gemeinsamen Vergangenheit neu zusammenzusetzen und das Leben des Mannes, den sie liebt, neu zu entdecken und zu verstehen.
Daniel Alarcóns erzählt seine Geschichte nicht linear, sondern folgt den Erinnerungssprüngen seiner Protagonisten, wechselt immer wieder die Perspektive, kontrastiert liebevoll gezeichnete dörfliche Alltagsszenen mit der Verlorenheit der Flüchtlinge in den Städten, schildert Foltergefängnisse und Slums genauso wie die angsterfüllten Partys der Reichen und Mächtigen. Aus all diesen Bruchstücken entsteht das beklemmende Panorama eines Landes im und nach einem Bürgerkrieg, der für alle Seiten vor allem Trostlosigkeit bedeutet. Trotz der lokalen Bezüge ist “Lost City Radio” kein Roman über den Bürgerkrieg in Peru, sondern vermittelt in beklemmender Weise, was ein Bürgerkrieg bedeutet – wo immer er stattfindet. Ein Bürgerkrieg kennt keine Sieger und Besiegte, er hinterlässt Menschen, die von ihrem Alltag nicht mehr getragen werden, deren Beziehungen durch Regierungssoldaten wie Rebellen zerstört werden, die ungewollt und oft ahnungslos zu Verrätern werden und deren Traditionen genauso zerbrechen wie die Ideologien. Am Ende bleiben Leichen – und traurige Mörder.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main