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Autor
Hartmann, Lukas

Auf beiden Seiten

Untertitel
Beschreibung

Als der Schweizer Journalist Mario kurz vor dem Mauerfall nach Ostberlin reist, um dort eine Reportage zu machen, lernt er eine Stadt im Aufbruch kennen. Der Mauerfall, so überraschend er auch für ihn kommt, bestätigt nur das Gefühl, vor etwas gänzlichem Neuen zu stehen. Der Kalte Krieg ist vorbei – glaubt er. Aber dann muss er feststellen, dass er ihm näher war und ist, als er sich je hätte vorstellen können. Er fand in seiner unmittelbaren Nähe statt, in seiner Familie, ohne dass er etwas davon geahnt hätte.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Diogenes Verlag, 2015
Format
Gebunden
Seiten
336 Seiten
ISBN/EAN
978-3-257-06921-1
Preis
23,90 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Spiegel bei Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und für Kinder. Er ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen, zuletzt ›Abschied von Sansibar‹, regelmäßig auf der Bestsellerliste. Für ›Bis ans Ende der Meere‹ wurde er 2010 mit dem Sir-Walter-Scott-Literaturpreis für historische Romane ausgezeichnet.

Zum Buch:

Dr. Armand Gruber war ein brillanter Deutschlehrer und eine wichtige Person im Leben des Schülers Mario. Durch ihn lernte der aus kleinen Verhältnissen stammende Junge die Literatur kennen und lieben, ein Lob von ihm machte ihn stolz, ein Tadel raubte ihm den Schlaf – bis zu dem Augenblick, als er auf Ionesco stieß und eine andere Literatur kennenlernte. Der Versuch, seinem an Stifter orientierten Lehrer ein eigenes kleines Werk zur Begutachtung vorzulegen, endete katastrophal; Grubers Kritik war gnadenlos und setzte der Verehrung seines Schülers ein abruptes Ende. Spätestens nach dem Abitur wäre die Verbindung wohl ganz abgerissen, wäre da nicht Grubers Tochter Bettina gewesen, in die sich Mario später verliebt und die er schließlich heiratet. Die Ehe geht schief, aber Mario bleibt über die gemeinsamen Kinder weiterhin mit Bettina und damit auch mit ihrem Vater in Kontakt. Und so erfährt er schließlich erschüttert, schockiert und ungläubig, dass der bildungsbürgerliche, stockkonservative und schöngeistige Gruber – und nicht nur er – jahrzehntelang ein Doppelleben geführt hat, von dem niemand wusste – nicht die Ehefrau, der er das Malen verbot und die sich dafür rächt, indem sie das Haus bis zum Platzen mit Grünpflanzen füllt, nicht die Tochter, der er eine Karriere als Konzertpianistin verbaut und die sich ihr Leben lang gegen ihn aufgelehnt hat, nicht die Nachbarn und Kollegen. Davon wussten nur die anderen Mitglieder der geheimen Organisation P-26, die sich seit dem Krieg auf den Widerstand im Fall einer sowjetischen Invasion in die Schweiz vorbereitete. Die Pläne für den Fall einer solchen Invasion reichen von Absurditäten wie dem Aufsteigenlassen von Luftballons in den Landesfarben, um die Moral der Schweizer zu stärken, bis zur geplanten Liquidierung von Linken, die mit dem Feind gemeinsame Sache hätten machen können …

Lukas Hartmann ist bei uns durch seine ausgezeichneten historischen Romane bekannt geworden, und er beschreibt die Zeit des Kalten Krieges aus derselben Perspektive: als historische Epoche, die der Vergangenheit angehört, sich aber im Leben der Gegenwart niederschlägt. Hartmann begibt sich aufmerksam und respektvoll in das Leben seiner Protagonisten, wie ein Ethnologe, der eine fremde Kultur verstehen will. Die Schweiz, die uns doch immer so nah zu sein scheint, wird hier zu einem anderen, fremden Land, einem Land, in dem in den Familien ein Schweigen herrscht, das tiefere Ursachen zu haben scheint als den Generationenkonflikt der 60er Jahre. Das unbedingte Festhalten am Althergebrachten, sei es in der Literatur, sei es in der Politik, legt sich wie ein lähmender Schleier auf alle Beziehungen, verhindert Aufbrüche, Kreativität, Freude. „Auf beiden Seiten“ eröffnet den Blick auf eine Zeit, die – zum Glück – vorbei ist, so wenig rosig die Gegenwart auch sein mag.

Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main