Zum Buch:
Ihr Blick war unverstellt, und sie schrieb in einem ganz eigenen, klaren, weltoffenen und empathischen Tonfall: Milena Jesenská galt zu Lebzeiten als größtes Talent unter den jungen tschechischen Journalisten; bis heute ist sie nur wenigen bekannt, und den Wenigen lediglich als Freundin Franz Kafkas. Alena Wagnerová hat in diesem Band mehr als 70 kluge, elegante und hervorragend recherchierte Reportagen und Feuilletons Jesenskás zusammengetragen und damit die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass diese außergewöhnliche Frau und ihr Lebenswerk endlich gewürdigt werden.
Das bitterste und schwerste Los der Kinder, die alle Sorgen der Väter und Mütter im Kopf haben und längst keine Kinder mehr sind, die Allgegenwart des Krauts in Wien, die neuen Großstadt-Typen, die die Zeit der Schwarzmärkte hervorbringt: Jesenská beobachtet und analysiert alles, was ihr auf den Straßen Wiens von 1919 bis 1924 begegnet. Ihre Essays, von denen sie in der Wiener Zeit die meisten nur unter männlichem Pseudonym veröffentlichen kann, sind intensive Momentaufnahmen gesellschaftlicher Brennpunkte.
Nach der Rückkehr in die Tschechoslowakei im Jahr 1925 stehen mehr und mehr die politischen Entwicklungen ihres Landes im Fokus ihrer Artikel. Sie schreibt über die Menschen, die in den frühen 1930er-Jahren vor Hitler fliehen und dankbar sind für jede Form der Aufnahme. Wichtige Themen sind auch das Erstarken der Gruppe um den Nationalsozialisten und Sudetendeutschen Konrad Henlein und die zunehmende Armut in Prager Hinterhöfen. Jesenská leidet immer wieder auch selbst aufgrund ihrer unbeugsamen politischen Haltung Hunger, und mehr als das.
1939 schließt sich die Journalistin, die in ihrer Arbeit die Philosophie des Alltäglichen etablierte und mit ihren Analysen die politischen Verhältnisse der Vorkriegszeit in der Tschechoslowakei präzise erfasste, der Widerstandsbewegung an und stirbt am 17.Mai 1944 im KZ Ravensbrück. Lesen Sie ihre Texte – jeder von ihnen zeigt einen lebendigen Ausschnitt der damaligen Welt und kommt einer sprechenden Fotografie gleich, aufgenommen von einer Persönlichkeit, die ihre Lebensanschauung in ihren Texten nicht verbirgt.
Susanne Rikl, München