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Autor
Wunnicke, Christine

Der Fuchs und Dr. Shimamura

Untertitel
Roman
Beschreibung

Es gibt Bücher, bei denen sämtliche Versuche, ihren Inhalt zu erzählen, kläglich scheitern. Man sieht seinem Gegenüber sofort an, was es darüber denkt: „wie banal, abgedreht, unverständlich, langweilig“. Oft liegen einem gerade diese Texte am Herzen weil WIE erzählt wird fast noch faszinierender ist, als WAS erzählt wird. „Der Fuchs und Dr. Shimamura“ ist so ein Fall. Ein schmales Buch voller Witz, Fantasie und Fabulierlust, ein großes Lesevergnügen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Berenberg Verlag, 2015
Format
Gebunden
Seiten
144 Seiten
ISBN/EAN
9783937834764
Preis
20,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Christine Wunnicke wurde 1966 in München geboren und wuchs dort auf. Sie studierte Linguistik, Altgermanistik und Psychologie in Berlin und Glasgow, Seit 1991 arbeitet sie als freie Autorin für verschiedene Hörfunktsender. 1998 erschien beim Kanus Verlag ihr vielbeachteter erster Roman “Fortescues Fabrik”. Für “Jatlag” erhielt sie 1999 das Literaturstipendium der Stadt München.

Zum Buch:

Dr. Shimamura ist ein junger japanischer Nervenarzt, den sein Lehrer in die Provinz schickt, um die „Fuchsbessenheit“, ein Phänomen, das bevorzugt Frauen befällt, zu ergründen und die Erkrankten zu heilen. Ein junger Student begleitet ihn. Shimamura, der weder die in die Kranken gefahrenen Füchse erkennen noch mit deren Zuckungen und Geheule etwas anfangen kann, diagnostiziert in den meisten Fällen Epilepsie. Der Student betreibt heimlich Exorzismus, die Besessenen scheinen geheilt. Shimamura, angeekelt und verwirrt, will nach Hause. Als letztes suchen sie noch die Tochter eines reichen Fischhändlers auf, ein junges Mädchen, auch sie dem Fuchsgeist verfallen. Vierzehn Tage bleiben sie in deren Haus, und am Ende ist der Student verschwunden und Dr. Shimamura scheint sich selbst einen Fuchs eingefangen zu haben – aber so genau weiß er es nicht.

Er beschließt, auf Bildungsreise nach Europa zu fahren, wo er alle wichtigen Stationen der damaligen neurologischen und psychologischen Forschung besucht: Paris (Charcot), Berlin (Charité), Wien (Breuer, Freud). Er besichtigt Hysterikerinnen, zerschneidet und färbt Gehirne, lässt sich analysieren. Aber was er auch lernt und tut, seinen Fuchs wird er nicht los. Wie somnambul geht er durch sein Leben, das ihm fremd bleibt, wie er den Menschen fremd zu sein scheint.

So kehrt er nach Tokio zurück, lehrt dort an der Universität, forscht unsystematisch und veröffentlicht wenig. Zu Hause umsorgen ihn seine vier Frauen: Ehefrau, Mutter, Schwiegermutter und eine aus der Irrenanstalt geholte Magd, von der niemand mehr wusste, ob sie Patientin oder Pflegerin war. Nicht glücklich, nicht unglücklich, immer leicht fiebrig, lebt er nie ganz in dieser Welt, bis er 1923, kurz nachdem er in seinem Garten zum ersten Mal einem Fuchs begegnet ist, sanft verstirbt.

Das ist eine ziemlich schräge Geschichte, voller Irrwitz und Komik, deren Reiz darin besteht, dass sich seriöses wissenschaftliches Vokabular mit Ironie, Berichtsstil mit wilder Fabulierlust abwechseln. Dazu kommt, dass bekanntermaßen nicht nur die wissenschaftlichen Protagonisten, sondern auch Dr. Shimamura wirklich existiert haben – was jedoch den Realitätsgehalt der Geschichte nicht zwingend erhöht. Charcots Versuche zur Hysterie, das systematische Zerschneiden von Gehirnen oder die ersten Versuche mit der Psychoanalyse muten nicht seriöser an als das Austreiben von Fuchsgeistern mithilfe von Menschen, die freiwillig den Geist in sich fahren lassen, um den Besessenen zu heilen. Und vielleicht ist der Fuchs, der bevorzugt Frauen heimsucht, gar nichts anderes als die japanische Version der Hysterie? Dass es auf sämtliche Fragen, die dieses Buch aufwirft, keine ordentlichen Antworten gibt, ist die Stärke des Textes. Nie weiß der Leser, was Dichtung oder Wahrheit ist, was Wahn oder Wirklichkeit, und so geistert er zusammen mit Dr. Simamura durch dessen Leben – und das, wie ich finde, mit großem Vergnügen.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt