Zum Buch:
Wer werden wir in den Augen unserer Nachfahren gewesen sein? Das Jahrhundert des Neo-Historismus, in dem alle Schöpfungen Anleihen, alle Hauptwerke Rückgriffe waren? Ein Zeitalter, in dem das menschliche Bewusstsein einen in seiner Tragweite bisher kaum begreifbaren, schwerwiegenden Bedeutungswandel durchlaufen hat? Roger Willemsen hat mit seiner Zukunftsrede noch einmal unumstrittene Geistesgröße und respektvolle Weltverbundenheit gezeigt.
Haben wir die Tragweite der technischen Entwicklungen, die in den letzten zehn Jahren unser Leben verändert haben, eigentlich schon begriffen? Oder geht es uns wie dem aus dem Vietnamkrieg heimgekehrten Piloten, der auch nach einem Jahr Auszeit im Kloster noch sagen musste: „I still don’t get it.“ Wohin wird uns die Errungenschaft des mobilen Telefons führen, das geschaffen wurde, um an jedem Platz der Welt eine Sprechverbindung zu ermöglichen, das heute aber schon zum Spiegelkabinett, zum Bildträger und -vermittler geworden ist, ganz abgesehen von der Masse an Kaufanreizen und Nachrichtenkomplexen, die es uns minütlich unterbreitet? Welche Bewusstseinsveränderungen gehen damit Hand in Hand, dass wir mittels zwei oder mehr Bildschirmen überall auf der Welt gleichzeitig sein können, uns aber im „Konfettiregen der Bilder, Daten, Affekte“ die unmittelbare Gegenwart abhanden kommt? Und werden wir endgültig aufgehört haben zu denken, wenn unser Haus zu einer „Komfort-Maschine“ umgerüstet ist?
Im Zentrum dieser Rede, die aus dem Morgen nach dem Heute fragt, steht unsere Verantwortung für die Zukunft, steht der Hang unserer Zeit zur Bequemlichkeit, steht die Veränderung des menschlichen Bewusstseins. Und am Ende des Essays finden sich einige mögliche Auswege aus den skizzierten Problemräumen, zu denen wir Menschen heute Tor und Tür geöffnet haben.
Eigentlich sollten die hier formulierten Beobachtungen, Gedanken, Prognosen Grundlagen für ein geplantes Buchprojekt sein. Doch bei eben diesem dichten Kondensat, dieser letzten Rede in der Öffentlichkeit im Juli 2015 sollte es bleiben; Roger Willemsen starb im Februar 2016. Wer wir waren ist sein Vermächtnis, das an alle Menschen des 21. Jahrhunderts gerichtet ist.
Susanne Rikl, München