Zum Buch:
Selten habe ich in den letzten Jahren ein Buch in die Hand bekommen, das mich gleichzeitig so amüsiert, geärgert und fasziniert hat wie Harald Welzers „Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand“. Eine Mischung aus Ratgeber, Selbsthilfe und sozialpsychologischer Tour de Force durch unsere Gegenwart, und das in einem Stil, der mal schnoddrig-persönlich daherkommt und dann wieder in einer Sprache, der es trotz aller ärgerlichen Schlampigkeit gelingt, komplexe Zusammenhänge verständlich zusammenzufassen.
Ausgehend von der Veränderung der Zukunftsvorstellungen seit den fünfziger Jahren – damals „Zukunft als Versprechen“, heute „Zukunft als Vergangenheit“ – beleuchtet Welzer den Zustand unserer Gesellschaft, die wie alle Gesellschaften in der Krise versucht, ihre Probleme mit eben den Methoden zu lösen, die sie überhaupt erst verursacht haben. Was er da beschreibt, ist nicht neu und gründet sich auf teils bekannte Studien und Theorien, aber das Besondere an Welzers Ansatz ist, dass er die Theorie immer mit der Praxis, und das heißt auch der Praxis der Leser verbindet. Die werden entsprechend immer wieder direkt angeredet (wenn auch zum Glück per Sie und nicht per Du) und auf die mangelnden Konsequenzen hingewiesen, die sie aus ihrem theoretischen Wissen ziehen. Das könnte jetzt je nach Temperament dazu führen, vor lauter Schuldgefühlen rote Ohren zu bekommen oder das Buch wütend in die Ecke zu feuern, wäre da nicht die immer spürbare Selbstironie, mit der der Autor einen in die Pflicht zur Selbsterkenntnis bzw. zum selbst denken nimmt. Und wären da nicht die verblüffenden Denkanstöße, etwa beim Thema Konsum – oder ist Ihnen, wenn Sie die Pizza mit dem abgelaufenen Haltbarkeitsdatum aus dem Tiefkühlfach entsorgen, schon einmal der Gedanke gekommen, dass Sie kein Konsument, sondern bloß ein Zwischenlager zwischen Supermarkt und Mülltonne sind? Für mich war dieser Gedanke wirksamer als alle Klagen über die Menge an weggeworfenen Lebensmitteln. Und dasselbe gilt für die Beispiele für angewandtes Selbst denken, die die zweite Hälfte des Buches füllen. So trivial sie angesichts der großen Weltprobleme auch erscheinen mögen, so anregend sind sie und so lange wirken sie nach.
Fazit: „Selbst denken“ ist kein Buch über die eine, große Theorie zur Weltrettung. Und das ist auch gut so, wenn man bedenkt, was diese Theorien angerichtet haben. Aber es ist ein Buch, das den Glauben, in unserer Kultur könne alles so weitergehen wie bisher, wenn man Wachstum nur „nachhaltig“ oder „ökologisch“ gestalte, gründlich zerstört. Und das Lust macht, Alternativen auszuprobieren und Handlungsspielräume zu erschließen.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main