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Autor
Warning, Wilhelm Christoph

Fremdenzimmer

Untertitel
16 junge Männer aus Syrien und ihre Geschichten. Fotos: Enno Kapitza
Beschreibung

“Seit dem Beginn der Moderne klopfen Menschen, die vor den Gräueln des Krieges und der Despotie oder einem aussichtslosen Dasein fliehen, an die Türen anderer Völker. Für die Menschen hinter diesen Türen waren sie immer schon – wie auch heute noch – Fremde. Fremde lösen gerade deshalb oft Ängste aus, weil sie ‘fremd’ sind – also auf furchterregende Weise unberechenbar und damit anders als die Menschen, mit denen wir täglich zu tun haben und von denen wir zu wissen glauben, was wir von ihnen erwarten können.”
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Sieveking Verlag, 2016
Format
Gebunden
Seiten
172 Seiten
ISBN/EAN
978-3-944874-53-1
Preis
22,90 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Wilhelm Christoph Warning (geb. 1948) ist Autor, Essayist und Kunst- und Architekturkritiker. Er arbeitet seit mehr als 30 Jahren vor allem für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Zum Buch:

“Seit dem Beginn der Moderne klopfen Menschen, die vor den Gräueln des Krieges und der Despotie oder einem aussichtslosen Dasein fliehen, an die Türen anderer Völker. Für die Menschen hinter diesen Türen waren sie immer schon – wie auch heute noch – Fremde. Fremde lösen gerade deshalb oft Ängste aus, weil sie ‘fremd’ sind – also auf furchterregende Weise unberechenbar und damit anders als die Menschen, mit denen wir täglich zu tun haben und von denen wir zu wissen glauben, was wir von ihnen erwarten können.”

Das schreibt Zygmunt Bauman in seinem vor Kurzem erschienen, brillanten Essay Die Angst vor den anderen. Das Zitat eignet sich als Motto des Porträt-Bandes, um den es in meiner Empfehlung geht: Absicht ist es, Ängste abzubauen und Verständnis zu erreichen. “Fremdenzimmer”, ein mittlerweile antiquiertes Wort aus der Touristik, ist der kongeniale Titel für dieses wichtige und beeindruckende Buch zu einem Thema, das uns noch lange beschäftigen wird und dem ich viele LeserInnen wünsche. Im Mittelpunkt steht die Botschaft, dass es “die Fremden“ oder „die Flüchtlinge“ als homogene Masse nicht gibt. Vielmehr sind Flüchtlinge Individuen mit jeweils eigenen Geschichten, Erfahrungen, Erinnerungen, Gefühlen, aber auch Hoffnungen, Erwartungen und nicht zuletzt mit Rechten.
In eine ehemalige Pension in einem oberbayerischen Dorf zogen im Dezember 2015 sechzehn aus Syrien geflohene Männer ein. Wilhelm Christian Warning und seine Frau, die unweit der neugeschaffenen Flüchtlingsunterkunft wohnen, beschlossen, ihre neuen Nachbarn kennenzulernen. Schon bei ihrem ersten Besuch bei den sechzehn Männern wurden sie aufs herzlichste begrüßt und bewirtet. Sehr bald entstand die Idee, diese Männer im Alter zwischen 19 und 39 Jahren einzeln zu porträtieren. So sollte jeder die Möglichkeit haben, von seinem persönlichen Schicksal zu berichten und damit seine Individualität wiederzuerlangen.

Was die sechzehn höchst unterschiedlichen Lebensgeschichten verbindet, sind drei Dinge: Keiner von ihnen wollte in dem sinnlosen Krieg auf Landsleute schießen, allen ist die Entscheidung zur Flucht unsagbar schwer gefallen, und jeder ist in ständiger Sorge um das Wohlergehen der Angehörigen und Freunde, die zurückzulassen sie gezwungen waren.

Die Männer kommen aus verschiedenen Regionen Syriens und hatten die unterschiedlichsten Berufe. Manche lebten als Bauern auf dem Land, einer war Pferdezüchter mit eigenem Gestüt. Andere lebten in Städten, arbeiteten als Jurist oder Programmierer oder studierten noch. Sie sind Muslime, Drusen oder Kurden. Sie erzählen von der Schönheit ihrer verlorenen Heimat, von ihren Familien und der Freundschaft, die auch zwischen Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit bestand. Sie berichten auch von der Verwüstung ihres Landes, vom Tod von Familienmitgliedern, Freunden und Nachbarn und von ihrer Flucht. Nicht alle nennen ihren wahren Namen oder zeigen Fotografen ihr Gesicht. Zu groß ist die Angst, zurückgebliebene Angehörige oder Freunde könnten durch ihre Berichten gefährdet werden; der Arm des syrischen Geheimdienstes ist lang, er reicht bis nach Deutschland. Alle erhoffen sich hier, was ihnen die Genfer Flüchtlingskonvention garantiert: Sicherheit und Schutz. Besonders erschütternd in dieser Lage ist die von der Bundesregierung beschlossene Verschärfung des Nachzugsrechts für Familienangehörige. Sie macht praktisch unmöglich, worauf alle portraitierten Männer nach der überstandenen Flucht gehofft hatten: ihre Familien nachholen und vor dem Krieg in Sicherheit bringen zu können.

Neben den biographischen Portraits enthält das Buch zehn doppelseitige Farbfotografien. Einige illustrieren beispielhaft die landschaftliche Schönheit Syriens und die reiche Kultur von Damaskus und Aleppo. Andere zeigen die verheerenden Kriegszerstörungen. Ein kurzer Abriss der syrischen Geschichte im 20. Jahrhundert und ein Glossar mit Erläuterungen zu Ethnien, Religionen und Politik runden das gelungene Buch ab.

Ralph Wagner, Ypsilon Buchladen & Café, Frankfurt