Zum Buch:
Ein stummer Fremder vor dem eigenen Haus, der lebensrettende Diebstahl eines Notizbuches, nächtlicher Personenschaden ohne Person oder das Spiel um alles oder nichts: Jan Costin Wagner erzählt in acht Geschichten auf seine unnachahmlich präzise, sachliche und gleichzeitig zutiefst anrührende Weise von Unvorhersehbarem, Unerwartetem im Alltäglichen.
Endlich ist sie nach Hause gekommen, die Tochter, längst erwachsen. Am Weihnachtsabend reiht sie sich ein in den Kreis der Familie; der Bruder mit Frau und Kindern ist auch zu Gast. Es hat geschneit, das Essen dampft auf dem Tisch, Geschenke für alle liegen unter dem Weihnachtsbaum, die Tochter raucht draußen vor der Tür in klirrender Kälte mit dem Vater noch eine Zigarette. Wer Jan Costin Wagners Kriminalromane und seinen finnischen Ermittler Kimmo Joentaa kennt, ahnt, dass diese gutbürgerliche Idylle eine völlig unerwartete Wendung nehmen wird. Leise und scheinbar ohne Vorwarnung kippt das so sorgsam und mit filmischer Akribie gezeichnete Bild des heilen Familienlebens und wird zur Kulisse. Es ist der Blick hinter die inszenierte Welt, dem sich der Abgrund auftut. Und dieser Blick kommt immer, bei dieser und allen anderen Geschichten, scheinbar völlig überraschend. Aus dem Nichts. Zumindest beim ersten Lesen.
Bei diesem ersten Lesen aber bleibt es nicht, dabei darf, kann es nicht bleiben. Man muss, man will, kaum ist der letzte Satz verklungen, das letzte Bild verblasst, die Geschichte noch einmal lesen, um sie zu finden – diese leisen, fein eingestreuten Anspielungen auf die Ebene daneben, dahinter, darunter. Das ist so faszinierend, so atemberaubend, das ist Jan Costin Wagners vierte Dimension des Erzählens.
Susanne Rikl, München