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Autor
Vieux-Chauvet, Marie

Töchter Haitis

Untertitel
Roman. Aus dem Französischen von Nathalie Lemmens. Nachwort von Kaiama L. Glover
Beschreibung

Töchter Haitis erzählt den langen und schmerzhaften Weg der Emanzipation einer jungen Frau aus der Zuschreibung aufgrund ihrer Hautfarbe und ihrer Rolle in einer rassistischen und patriarchalen Gesellschaft. Marie Vieux-Chauvet hat ihren ersten Roman Anfang der Fünfzigerjahre in Haiti geschrieben und darin die politische und gesellschaftliche Entwicklung ihres Landes eng mit der persönlichen Geschichte der Heldin verwoben. Haiti mit seiner unruhigen Geschichte ist bei uns wenig bekannt. Das gilt auch für seine Autoren und Bücher. Nach dieser faszinierenden Lektüre wird sich das hoffentlich ändern.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Manesse Verlag, 2022
Format
Gebunden
Seiten
288 Seiten
ISBN/EAN
978-3-7175-2550-9
Preis
28,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Marie Vieux-Chauvet (1916–1973) wurde in Port-au-Prince in Haiti geboren. Ihr Vater war haitianischer Politiker, die Mutter stammte von den ehemals spanischen, seit 1898 zu den Vereinigten Staaten gehörigen Jungferninseln. Sie besuchte die l‘Annexe de l‘École Normale d’Institutrices und machte 1933 ihren Abschluss als Grundschullehrerin. Kurz darauf heiratete sie Aymon Charlier, einen Arzt, ließ sich aber vier Jahre später scheiden. Ihren zweiten Mann, Pierre Chauvet, heiratete sie 1942. Ab 1947 trat sie als Theaterautorin in Erscheinung. Ihr erster Roman «Fille d’Haïti» erschien 1954 und wurde mit dem Prix de l’Alliance Française ausgezeichnet. Es folgten die Romane «La Danse sur le Volcan» (1957) und «Fonds des Nègres» (1960), für letzteren wurde sie mit dem Prix France-Antilles geehrt. Als François Duvalier Präsident wurde und sich als Papa Doc zum Diktator aufschwang, bedeutete das für sie massive Einschränkungen. Sie war einziges weibliches Mitglied in der haitianischen Autorenvereinigung «Les Araignées du Soir» («Die Spinnen des Abends»). Die «Trilogie Amour, Colère, Folie» (1969) erschien auf Fürsprache Simone de Beauvoirs. Aus Angst vor Repressalien kaufte ihr Mann alle in Haiti befindlichen Exemplare auf. Schließlich musste sie ins US-amerikanische Exil gehen und lebte bis zu ihrem Tod in New York. Dort schrieb sie auch ihren letzten Roman, «Les Rapaces», der 1971 erschien.

Zum Buch:

Marie Vieux-Chauvet hat ihren ersten Roman Töchter Haitis Anfang der Fünfzigerjahre in Haiti geschrieben. Den Hintergrund der Romanhandlung bildet die bewegte Geschichte des Landes. Im Laufe der Jahrhunderte wechselten Sklavenhalter und französische Kolonisatoren, die 1804 vertrieben wurden, über eine erste schwarze Republik mit ständig wechselnden Herrschern, die aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten und fehlender Anerkennung im Ausland stets instabil blieb, bis zu einer 20-jährigen Besatzung durch die USA. Zum Zeitpunkt der Romanhandlung herrscht Élie Lescot, der zur mulattischen Oberschicht zählt. Nach der Befreiung von der Kolonialherrschaft hat sich statt der erhofften Gleichheit aller auf der Insel ein neuer Rassismus ausgebildet. Ein ausdifferenziertes System der Abstufungen der Hautfarbe, der Physiognomie und der Beschaffenheit der Haare entscheidet über den gesellschaftlichen Status. Die überwiegend schwarze Bevölkerung ist zwar in der Mehrheit, die Oberschicht bilden jedoch die besser ausgebildeten und häufig reicheren Mulatten – was zu Neid, Missgunst und offenem Hass führt.

Hauptfigur und Ich-Erzählerin des Romans ist die junge Lotus Degrave, eine Mulattin, die mit ihrer Mutter und einigen Bediensteten in einem großen Haus inmitten eines Armutsviertels lebt. Lotus gehört zwar aufgrund ihrer Herkunft zur Oberschicht, wird aber dennoch ausgegrenzt, denn sie ist eine “pitite bouzin”, eine Hurentochter. Ihre Mutter prostituiert sich, um der Tochter ein materiell besseres Leben zu ermöglichen. Als die Mutter stirbt, ist Lotus fünfzehn Jahre alt und lebt weiter allein in dem Haus. Sie zerstreut sich mit oberflächlichen Männerbekanntschaften, für die sie die Männer, aber auch sich selbst verachtet. Hinter einer rebellischen und selbstbewussten Fassade leidet sie unter Ängsten, emotionaler Unausgeglichenheit und Unerfülltheit. Dann lernt sie Georges Caprou kennen, einen Anführer der im Verborgenen agierenden Oppositionsbewegung. Durch ihn beginnt sie, die Unterdrückung und Armut der schwarzen Bevölkerung zu erkennen und sich politisch zu engagieren. Nach einem erfolgreichen Aufstand muss sie erkennen, dass der tief verwurzelte Rassismus aller Gruppen zu nichts weiter führt als zu einer Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse und dass sie einen eigenen Weg finden muss.

Töchter Haitis ist ein komplexer Roman, in dem die politische und gesellschaftliche Entwicklung eng mit der persönlichen Geschichte der Heldin verwoben ist. Es ist die Geschichte der Emanzipation einer jungen Frau aus der Zuschreibung aufgrund ihrer Hautfarbe und ihrer Rolle in einer rassistischen und patriarchalen Gesellschaft. In einem langen und schmerzlichen Prozess erkennt Lotus, dass ihr Gefühl der Unfreiheit nicht nur aus dem besteht, was die Gesellschaft ihr erlaubt oder verbietet, sondern dass es viel tiefer reicht. Die größte Falle besteht für sie nicht in der Unterdrückung als Frau, sondern in der Liebe, denn Lotus fühlt sich nur lebendig, wenn sie sich begehrt und geliebt glaubt, und existiert nur, wenn Georges da ist. Sie erkennt, dass sie überhaupt nicht weiß, wer sie ist und was sie wirklich will.

Fille d’Haïti erschien 1954 und wurde mit dem Prix de l’Alliance Française ausgezeichnet. In einer klaren, kraftvollen und vor allem lebendigen Sprache, durchsetzt von kreolischen Ausdrücken, verknüpft Marie Vieux-Chauvet in ihrem Roman die private und die politische Ebene zu einem faszinierenden Bild eines Landes und seiner Bevölkerung. Haiti ist mit seiner Geschichte bei uns wenig bekannt. Nach dieser faszinierenden Lektüre wird sich das hoffentlich ändern.

Ungewohnt für heutige LeserInnen dürfte die Verwendung von Bezeichnungen wie “Mulatte”, “nègre/nègresse” sowie diverse Worte aus dem Kreolischen sein. Ausführliche Anmerkungen, ein Glossar und vor allem ein sachkundiges Nachwort der Romanistin und Afrikanistin Kaiama L. Glover geben hier die notwendigen Informationen. Es ist ein großes Verdienst des Manesse Verlags, dass er den Romanerstling der hierzulande unbekannten Autorin, die in ihrem Land Kultstatus hat, herausgebracht hat. Ein weiteres Buch, Tanz auf dem Vulkan, ist zum Frühjahr angekündigt.

Ruth Roebke, Frankfurt a.M.