Zum Buch:
Wer von den Jüngeren kann sich vorstellen, dass es Mitte der 50er Jahre, zu Beginn des Wirtschaftswunders in Deutschland, hinter einem großen Berliner Mietshaus eine kleine Molkerei gab, in deren Ställen ein paar Kühe standen, deren Bedarf an Heu von einem dicken braunen Kaltblüter gleichmütig durch den Verkehr herangeschafft wurde? Oder dass in Kreuzberg zweispännige Wagen voller Bierfässer, die die Kneipen belieferten, zum normalen Straßenbild gehörten? Inzwischen sind Pferde hierzulande Freizeitgeschöpfe geworden, Traumpartner für pubertierende Mädchen, Reittiere für den gestressten Städter, Therapiegehilfen oder hochgezüchtete Maschinen für den professionellen Renn-, Reit- und Springsport. Aber das ist in der langen gemeinsamen Geschichte von Mensch und Pferd eine kurze Episode.
Jahrtausendelang nutzte der Mensch das Pferd als Lasttier, für den Transport von Gütern, als Verkehrsmittel, für die Jagd und vor allem immer wieder für Kriege. Nie wurden so viele Pferde benötigt und „verbraucht“ wie in kriegerischen Auseinandersetzungen, wobei der 1. Weltkrieg mit acht Millionen getöteter Pferde einen Höhepunkt bildete. Aber selbst im 2. Weltkrieg waren sie, trotz der weitgehenden Mechanisierung und Technisierung, besonders in den unwegsamen Gegenden Osteuropas unentbehrlich.
Kaum ein Tier ist vom Menschen dermaßen ausgebeutet und misshandelt worden wie das Fluchttier Pferd. Als Grubenpferd in dauerhafter Dunkelheit lebend, als Rennpferd zu Tode gehetzt, als Kutsch- und Omnibuspferd durch die „Pferdehölle“ der Großstädte gepeitscht oder als „Kampfmaschine“ im Krieg missbraucht. Aber gleichzeitig wurden Pferde für ihre Kraft und Anmut bewundert, als Herrschaftssymbol geschätzt, mythisch überhöht und als Inbegriff der Freiheit geliebt.
Diese doppelte Beziehung verfolgt Raulff auf unterschiedlichen Themenfeldern: Geschichte, Kulturgeschichte, Militärgeschichte, Kunst und Literatur. „Das letzte Jahrhundert der Pferde“ ist ungeheuer materialreich, erschlägt den Leser aber nicht mit trockenen Fakten. Das Buch ist in große Abschnitte gegliedert, innerhalb derer der Leser je nach Interesse hin- und herspringen kann. Und es besticht nicht nur durch die profunde Kenntnis des Autors. Der Leser spürt dessen Verbundenheit mit dem Thema, die durch eine Nachkriegskindheit auf dem Land entstanden ist. In einem Radiointerview hat Raulff, Leiter des Literaturarchivs in Marbach und Autor hochgelobter Bücher über Aby Warburg und Stefan George, auf die Frage, warum er jetzt über Pferde schreibe, lapidar geantwortet: er sei Westfale, seine Mutter und eine Tante seien Reiterinnen gewesen. Am Ende seiner Einleitung zum Buch klingt es etwas persönlicher: „Geschrieben habe ich es für meine Mutter, die die Pferde liebte und verstand. Ob es ihr gefallen hätte, werde ich nicht mehr erfahren. Zehn Jahre sind vergangen, seit ich sie zuletzt hätte fragen können.“ Als Leserin von heute kann ich sagen, ich habe das Buch mit großem Interesse und Vergnügen gelesen, obwohl ich Angst vor Pferden habe …
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt