Zum Buch:
Sie nennen ihn den verrückten Briefträger. Denn die Drachen, die der Landbriefträger Ambroise Fleury nach dem Ersten Weltkrieg in seinem Heimatort Cléry in der Normandie baut, tragen Namen wie „Taumler“, „Allerwertester“, „Montaigne“, „Liberté“ oder „Weltfrieden“. Ambroises Neffe, der elternlose Ludo, lernt von seinem pazifistischen Onkel nicht nur die Kunst des Drachenbaus, ihm wird auch die Weisheit des Onkels zuteil, der mit seinen Drachen von der Erde abzuheben scheint und in dieser zugegebenermaßen entrückten Perspektive menschlicher denkt und handelt als viele seiner Mitbürger.
Auch Ludo trägt das Erbe der Fleurys in sich. Seine Verrücktheit zeigt sich in einem ständigen „Gedächtnisüberschuss“: Er vergisst nichts und niemanden. Das kann sehr schmerzlich sein, wenn man sich hoffnungslos verliebt. Und genau das passiert ihm mit Lila de Bronicka, der Tochter polnischer Adeliger, die zur Jahresmitte immer wieder auf ihrem Sommersitz Les Jarsin der Nähe von Cléry residieren. Auch wenn Ludo sich gegen Lilas deutschen Cousin Hans als ihr Liebhaber durchsetzen kann, bereitet der Zweite Weltkrieg der heimlichen Liebe ein jähes Ende. Vom Militärarzt ausgemustert, riskiert Ludo als Mitglied der Résistance immer wieder sein Leben, schließlich auch, als er den fliehenden Hans vor den Deutschen und den Franzosen versteckt. Onkel Ambroise wird inhaftiert, nachdem er von der Razzia von Vel‘ d’Hiv‘ und den Massendeportationen jüdischer Mitbürger gehört hat und sieben gelbe Sterne in den Himmel hat steigen lassen. Und als Ludo Lila nach Jahren endlich wiedersieht, scheint aus ihr ein anderer Mensch geworden zu sein. Doch er kann sie nicht vergessen und gibt auch ihre Liebe nicht auf.
Aus diesem letzten Roman Garys spricht eine so tiefe, gegen alle Widrigkeiten des Krieges und des Lebens sanft, aber gründlich rebellierende Menschlichkeit, dass man innerlich jubeln möchte! Und das, obwohl die Grausamkeiten der 1930er und 1940er Jahre auf deutscher wie französischer Seite in aller Deutlichkeit geschildert werden. Daneben hält der Autor aber auch die Erinnerung an das alte Frankreich, an die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wach.
Die Erinnerung ist letztendlich auch die Kraft, die das scheinbar unendlich Ferne, Unerreichbare, das Blau des Himmels für Ludo in allernächste Nähe rücken wird. Denn so, wie er Lila samt ihrem Unglück weiterhin liebt, hält er auch an der Hoffnung fest, dass sein Onkel aus Auschwitz zurückkehrt. Er will Ambroises Drachen wieder am Himmel sehen …
Susanne Rikl, München