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Wo wir stolpern und wo wir fallen

Autor
Ibrahim, Abubakar Adam

Wo wir stolpern und wo wir fallen

Untertitel
Roman. Aus dem Englischen von Susann Urban
Beschreibung

Die meisten von uns wissen wenig über Nigeria, den Vielvölkerstaat, der aus über vierhundert Sprach- und Volksgruppen besteht und mit seinen 130 Millionen Einwohnern ungefähr ein Sechstel der Gesamtbevölkerung Afrikas ausmacht. Nur die anhaltenden gewalttätigen Spannungen zwischen dem muslimischen Norden und dem eher christlich geprägten Süden des Landes oder die Gräueltaten der Boko Haram erreichen in Form religiöser Anschläge mit trauriger Regelmäßigkeit auch unsere Nachrichten. Der vieldiskutierte Debütroman des aus dem Norden stammenden Autors Abubakar Adam Ibrahim ist ausgesprochen gut geeignet, um eine Vorstellung des Lebens im heutigen Nigeria zu vermitteln.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Residenz Verlag, 2019
Seiten
360
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-7017-1712-5
Preis
25,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Abubakar Adam Ibrahim wurde 1979 in Jos in Nordnigeria geboren und lebt als Journalist und Autor in Abuja. Für seine Reportagen und Kurzgeschichten hat er zahlreiche Preise und Stipendien gewonnen, u.a. den BBC African Performance Prize und den Michael Elliot Award for Excellence in African Storytelling 2018. 2014 wählte ihn das Hay Festival auf die Liste der vielversprechendsten afrikanischen Autoren unter 40 Jahren. Sein vieldiskutierter Debütroman „Wo wir stolpern und wo wir fallen“ (Orig. „Season of Crimson Blossoms“, 2015) wurde mit dem Nigerianischen Literaturpreis 2016 ausgezeichnet.

Zum Buch:

Die meisten von uns wissen wenig über Nigeria, den Vielvölkerstaat, der aus über vierhundert Sprach- und Volksgruppen besteht und mit seinen 130 Millionen Einwohnern ungefähr ein Sechstel der Gesamtbevölkerung Afrikas ausmacht. Nur die anhaltenden gewalttätigen Spannungen zwischen dem muslimischen Norden und dem eher christlich geprägten Süden des Landes oder die Gräueltaten der Boko Haram erreichen in Form religiöser Anschläge mit trauriger Regelmäßigkeit auch unsere Nachrichten. Der vieldiskutierte Debütroman des aus dem Norden stammenden Autors Abubakar Adam Ibrahim ist ausgesprochen gut geeignet, um eine Vorstellung des Lebens im heutigen Nigeria zu vermitteln.

Binta Zubairu, oder besser Hajiya Binta – die Ehrenbezeichnung einer muslimischen Frau, die die Had(d)sch, die Pilgerreise nach Mekka, schon unternommen hat – ist Anfang fünfzig und eine angesehene Witwe, die mit ihren Enkelinnen Fa’iza und der kleinen Ummi in der Stadt Jos lebt. Eigentlich ist ihr Alltag den täglichen Gebeten und der Versorgung der ihr anvertrauten Kinder gewidmet, bis sie eines Tages von der Madrasa – den regelmäßigen Islam-Unterweisungen – nach Hause kommt und einen Einbrecher in ihrem Haus überrascht. Der junge Mann zwingt sie mit einem Messer, ihr alle Wertgegenstände auszuhändigen, und es kommt trotz der angedrohten Gewalt zu einem Moment eindeutiger, aber für beide Seiten verwirrender, Anziehung. Als Binta um Gnade bittet, appelliert sie an sein Ehrgefühl und erinnert ihn daran, dass sie seine Mutter sein könnte. Dieser Einwand bringt den jungen Mann durcheinander, macht ihn weicher, und letztlich geht er, ohne noch weitere Dinge einzufordern. Dies ist wohl der Moment, auf den der Titel des Romans anspielt: der Moment, in dem zwei mehr als unterschiedliche Menschen stolpern, die gläubige Muslimin Binta in den Fünfzigern und der junge Kleinkriminelle Reza, den das Leben früh abgehärtet und auf die schiefe Bahn geschickt hat. Die sexuelle Beziehung, die sich danach zwischen den beiden entwickelt, ist in vielerlei Hinsicht ein Skandal in dieser Gesellschaft, die auch heute noch von streng religiösen Vorschriften getragen wird.

Die inneren Kämpfe, die Binta im Verlauf des Romans durchlebt, sind die einer Frau, die erstmals in ihrem Leben körperliche Lust und Erfüllung mit einem Mann erlebt. Als junges Mädchen wurde sie – der Tradition entsprechend – mit einem älteren Mann zwangsverheiratet, gebar Kinder und erfüllte ihre familiären Pflichten, ohne das alles je zu hinterfragen. Jetzt widersprechen ihre geheimen Treffen mit Reza all dem, was die Gesellschaft und ihre Religion sie gelehrt haben, und dieser Widerspruch zerreißt sie fast.

Neben dieser „Liebesgeschichte“, deren intime Momente in für uns teilweise kitschig-blumigen Bildern beschrieben werden, erhalten wir erstaunliche Einblicke in diese so andere Gesellschaft, die zwischen Tradition und Moderne nach ihrem Weg sucht. Mütter, die ihre Erstgeborenen weder mit ihrem Namen ansprechen noch ihre mütterliche Liebe zeigen dürfen, Frauen, die hinnehmen müssen, dass ihre Männer sich Zweit- und Drittfrauen nehmen, weil ihre Religion sie dazu ermächtigt, sind uns fremd. Die Traumatisierung derer, die religiöse Anschläge überlebten oder Angehörige dabei verloren, ist jedoch universell und wird von Ibrahim mit großem Einfühlungsvermögen und sehr überzeugend in die Handlung des Romans eingeflochten.

Neben dem am Ende angefügten Glossar, das die im Text eingeflochtenen Hausa-Begriffe und -Redewendungen übersetzt, ist jedes Kapitel mit einem vielsagenden afrikanischen Sprichwort überschrieben: „Bohnenbällchen mit dem Speer zu essen, ist unpraktisch“, oder „Ehre ist wie Milch: einmal verschüttet, für immer verdorben“, von denen uns das eine oder andere auf recht humorvolle Weise in andere kulturelle Denkwelten entführt.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt