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Autor
Setz, Clemens J.

Die Stunde zwischen Frau und Gitarre

Untertitel
Roman
Beschreibung

Natalie, eine Frau in ihren frühen Zwanzigern, ist die Protagonistin des Romans. Sie beginnt ihre neue Arbeit als Bezugsbetreuerin in einer Grazer Psychiatrie. Besonders ein Patient steht im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit: Alexander Dorm, misogyner Rollstuhlfahrer, der vor Jahren einen Mann als Stalker verfolgt haben und somit verantwortlich für den Selbstmord seiner Frau sein soll. Ausgerechnet jener Mann, Christoph Hollberg, ist nun der einzige, regelmäßige Besucher Dorms – ein Arrangement, das zunächst einen freundschaftlichen Anschein mache und letztlich beiden Männern helfen solle, wie man der irritierten Natalie erklärt. Nach und nach verrätselt sich ihr Verhältnis allerdings zunehmend …
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2015
Format
Gebunden
Seiten
1021 Seiten
ISBN/EAN
9783518424957
Preis
29,95 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren. Seit 2001 studiert er an der dortigen Universität Mathematik und Germanistik. Er ist Obertonsänger, Übersetzer und Gründungsmitglied der Literaturgruppe Plattform. Zahlreiche seiner Gedichte und Erzählungen wurden in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht. 2008 wurde er beim Bachmann-Wettbewerb mit dem Ernst-Willner-Preis, 2013 mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft ausgezeichnet.

Zum Buch:

Es ist bei Romanen, deren Seitenzahl im vierstelligen Bereich liegt, üblich, zunächst auf ihre einschüchternde physische Erscheinung hinzuweisen, die Schwere, mit der sie in der Hand liegen, die Zeit, die sie vom Leser einfordern. Die Gefahr der Abschreckung liegt nah, und so kleidet der Verlag dieses Buch in einen Umschlag, der es wie einen Thriller ausschauen lässt, kurzweilige Unterhaltung im langen Format also. Zweifellos wird „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ auch von einer kammerspielartigen Anspannung bevölkert, das Buch darauf zu reduzieren, wäre jedoch völlig unzureichend – sein Autor unternimmt vielmehr den fulminant gelingenden Versuch, eminent gegenwärtige, dem digitalen Zeitalter entsprechende Kommunikationsformen zu ergründen. Clemens Setz schafft es dabei, klassisch moderne Wahrnehmungsmuster, die einen Alltag immer unpräziser beschreiben, je mehr sie zum literarischen Klischee werden, auf den Prüfstand zu stellen und – freilich in stetigem intertextuellen Dialog mit anderen Epochen – eine narrative Stimme für das Heute zu finden.

Natalie, eine Frau in ihren frühen Zwanzigern, ist die Protagonistin des Romans. Sie beginnt ihre neue Arbeit als Bezugsbetreuerin in einer Grazer Psychiatrie. Besonders ein Patient steht im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit: Alexander Dorm, misogyner Rollstuhlfahrer, der vor Jahren einen Mann als Stalker verfolgt haben und somit verantwortlich für den Selbstmord seiner Frau sein soll. Ausgerechnet jener Mann, Christoph Hollberg, ist nun der einzige, regelmäßige Besucher Dorms – ein Arrangement, das zunächst einen freundschaftlichen Anschein mache und letztlich beiden Männern helfen solle, wie man der irritierten Natalie erklärt. Nach und nach verrätselt sich ihr Verhältnis allerdings zunehmend, und eine verstörende Abhängigkeit, die sich aus Dorms kindlicher Unterwürfigkeit und Hollbergs sadistischen Anflügen speist, präsentiert sich Natalie. Aus diesem unterschwelligen Unbehagen gewinnt der Roman seine treibende Kraft, während Natalie in einem schleichenden Prozess ihre Distanz zu verlieren droht. Eine Konstellation, in der sich diverse Begehrens- und Machtstrukturen überlagern, bildet das auch motivisch fein gearbeitete Rückgrat des Textes, der sich aber mitnichten darin erschöpft.
Clemens Setz ist kein Freund der engführenden, einfachen narrativen Strategien. Nicht umsonst veröffentlichte er in den vergangenen Jahren einige brillante Essays in der Zeit, die so unterschiedliche Themen wie das DarkWeb, ASMR (ein durch bestimmte Alltagsgeräusche stimuliertes wohliges „Gehirnkribbeln“, das zum Internettrend wurde) oder David Foster Wallaces letzten Roman zum Thema haben, dabei aber stets um einen gegenwartsanalytischen Kern kreisen. Ein beträchtlicher Anteil dieser Ausflüge taucht auch in „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ wieder auf, dessen größte Stärke wahrscheinlich die Genauigkeit ist, mit der Setz die Psyche seiner Protagonistin seziert – ein Unterfangen, das ihn nicht zuletzt in die Nähe seines Landsmanns Robert Musil rückt. Immer wieder oszillieren die Kapitel zwischen plotgetriebenen Momenten und den idiosynkratischen Bewusstseinsströmen Natalies, die als Synästhetin auch einen Hang zu originellen Wortschöpfungen hat und dem „aurigen“ Gefühl ihrer sie früher häufig ereilenden epileptischen Anfälle zu entkommen sucht. Ihre Eigentümlichkeiten – sei es die imaginäre Maus auf ihrer Schulter, die sie sich zur Entspannung vorstellt, oder die Tatsache, dass sie ihre Kaugeräusche beim Müsliessen aufnimmt, um sie später wieder zu hören – verleihen dem Roman seinen Sound, einen an der Alltagsbeobachtung geschulten, ins Neurotische übersteigerten Scharfsinn. Auch die Schilderungen ihrer sexuellen Erfahrungen sind völlig frei von jener bräsig-parodistischen Romantik oder betonten Kälte, die so prägend für viele Texte der Gegenwart geworden ist.

Außerdem sollte hervorgehoben werden, wie virtuos Setz seine Dialoge setzt. Auch hier ist der Einfluss von Foster Wallace zu spüren: wie Aufmerksamkeit diffundiert und sich wieder vereinigt, Gespräche auseinanderdriften und sich erschöpfen, wird mit selten gelesener Plastizität aufgezeigt. Und so bleibt ein Roman, der – nicht ohne Arbeit vom Leser zu verlangen – zu dem Rundumschlag ansetzt, eine Lebenswirklichkeit abzubilden, für die das poetische Instrumentarium bislang kaum ausgerichtet war. Der zu diesem Zweck gleichzeitig Sprachwitz, Analyse und Wahnsinn einspannt – oder vielleicht vielmehr an der Auflösung der Grenzen von Normalität und Wahnsinn interessiert ist, um seinem Gegenstand so nah wie möglich zu kommen.

Schon zeitigt die Publikation von „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ ihre Wirkung: Vom Verlag wurde eigens ein Blog eingerichtet, auf dem Lektüreerfahrungen ausgetauscht werden können, und Setz erhielt dafür den diesjährigen Wilhelm-Raabe-Literaturpreis. Eine erste Ehrung für ein Werk, dem Iljoma Mangold in seiner Rezension in der Zeit das Potential zum Kultroman bescheinigt.

Viktor Fritzenkötter, Frankfurt am Main