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Autor
Meruane, Lina

Rot vor Augen

Untertitel
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Beschreibung

Eine junge Frau ist auf einer Party. Sie bückt sich, um ihre Tasche unter dem Berg von Jacken der anderen Partygäste herauszuangeln, ist etwas in Eile, da ihre Insulinspritze schon um Mitternacht fällig gewesen wäre – und da passiert es, das seit langem Befürchtete, von Ärzten angekündigte Szenario: ein Netzhautäderchen in Linas Auge platzt, und sie sieht nichts mehr außer ROT.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Arche Verlag, 2018
Format
Gebunden
Seiten
200 Seiten
ISBN/EAN
9783716027660
Preis
20,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Lina Meruane, geboren 1970 in Santiago de Chile, ist Kulturjournalistin und Professorin für Allgemeine und lateinamerikanische Literatur sowie Kreatives Schreiben an der New York University. >Rot vor Augen< ist ihr vierter Roman, der 2016 in den USA auch auf Englisch erschien und in viele Sprachen übersetzt wird. Neben Auszeichnungen in ihrer Heimat Chile erhielt sie 2011 den Anna-Seghers-Preis für Internationale Literatur. 2017 bekam sie ein Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD.

Zum Buch:

Eine junge Frau ist auf einer Party. Sie bückt sich, um ihre Tasche unter dem Berg von Jacken der anderen Partygäste herauszuangeln, ist etwas in Eile, da ihre Insulinspritze schon um Mitternacht fällig gewesen wäre – und da passiert es, das seit langem Befürchtete, von Ärzten angekündigte Szenario: ein Netzhautäderchen in Linas Auge platzt, und sie sieht nichts mehr außer ROT. Das ist der beklemmende Beginn von Lina Meruanes neuem Roman Rot vor Augen. Ab jetzt fühlt man sich Seite an Seite mit einer Frau, die ihren Alltag plötzlich mit massiv eingeschränktem Sehvermögen bewältigen muss, und ahnt, wie es wäre, plötzlich fast blind zu sein, ohne Gewissheit oder klare Hoffnung, ob es ein Zurück gibt. Trotz Ignacio, dem Partner an Linas Seite, mit dem sie gerade in eine gemeinsame Wohnung in New York zieht, ist sie völlig allein in ihrer verdunkelten Welt, fällt und stolpert, stößt sich schmerzhaft, hasst sich für ihre plötzliche Orientierungsunfähigkeit und Hilfsbedürftigkeit, klammert sich an die Erinnerungen an ihre alltägliche Umgebung, um irgendwie zurecht zu kommen.

Die plötzliche Blindheit ist ein Wendpunkt in Linas Leben, den sie jedoch lange nicht wahrhaben und schon gar nicht akzeptieren will. Um eine Zeit von mehreren Wochen zu überbrücken, die ihr behandelnder Arzt bis zu einer möglichen Operation angesetzt hat, reist sie zu ihrer Familie nach Chile, unwillig eigentlich und abgestoßen von dem Rollstuhl, in den sie Ignacio am Flughafen „zwingt“. Ihre Eltern und Brüder empfangen sie in ihrem alten Zuhause mit gemischten Gefühlen. Und Lina fühlt sich gequält von der teilweise wortlosen, aber dennoch sehr spürbaren Sorge ihrer Angehörigen und dem Drängen ihrer Mutter, sich in Chile statt in New York operieren zu lassen. Sie klammert sich an ein postoperatives „Danach“, in dem sie einfach an ihr bisheriges, selbstbestimmtes Leben als Schriftstellerin in New York anknüpfen wird. Den Vorschlag einer engen Freundin, die Fortsetzung ihres bereits angefangenen Romans auf ein Diktiergerät zu sprechen, ignoriert sie entrüstet, verweist auf den kreativen Akt des Schreibens, der nicht mündlich vollzogen werden könne. Ein Gefühl tiefer Vergeblichkeit begleitet die Protagonistin nicht nur während der letzten dramatischen Kapitel, sondern auch im Ringen um ihre Sehkraft, um ihre Identität zwischen der Heimat Chile und ihrem jetzigen Leben in den USA mit Ignacio. Es scheint in dieser Ausnahmesituation keine Schutzzone für Lina zu geben, weder eine physische noch eine emotionale.

Durch eher kurze Kapitel, Andeutungen und sporadisch im wortlosen Nichts endende Sätze vermittelt der Text etwas Atemloses und bisweilen Beklemmendes. Der typisch lateinamerikanische magische Realismus blitzt in kurzen Visionen der Protagonistin auf, in denen ihre Mutter ihr die eigenen Augen als Organspende vermacht. Sehr gekonnt und mit viel sprachlichem Feingefühl gelingt es der Autorin, uns in die Erblindung der Protagonistin mit einzubeziehen, das Unvorstellbare nachvollziehbar, vor dem inneren Auge „sichtbar“ zu machen, was dann eben nicht mehr zu erkennen, sondern nur noch schemenhaft zu erahnen wäre. Sehen, Suchen und Sein verschmelzen zu schwer trennbaren Begriffen.

Lina Meruane, die 1970 in Santiago de Chile zur Welt kam, gilt als eine der profiliertesten weiblichen Stimmen der chilenischen Gegenwartsliteratur. 2011 erhielt sie den Anna Seghers-Preis der Akademie der Künste in Berlin, 2012 für ihren dritten, nun auch in deutscher Sprache vorliegenden Roman Sangre en el ojo / Rot vor Augen den Sor Juana Inés de la Cruz Prize.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt