Zum Buch:
Hedwig Leydenfrost, die in jungen Jahren nach der Enteignung der Familie mit ihrem Vater der DDR den Rücken gekehrt hatte und in die Bundesrepublik übersiedelte, war Zeit ihres Lebens ein politischer Mensch. In Westdeutschland war sie eine der Wortführerinnen der APO, sie war Gründungsmitglied der Grünen und hatte lange in der Partei eine bedeutende Rolle inne. Nach der „Wende“ und ihrer Pensionierung gab sie alle politischen Ämter auf und kehrte nach Wittenhagen in Brandenburg zurück, in den Ort, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Hier lebt sie in der alten „Villa“ mit ihrem ein Jahr jüngeren Bruder Leo zusammen, der in der DDR geblieben war und dort als Bibliothekar ein zurückgezogenes Leben geführt hatte.
Man schreibt das Jahr 2015. Im kommenden Sommer wird Hedwig Leydenfrost neunzig Jahre alt werden. Diesen Tag will die Familie groß feiern, und Hedwig, der Feste dieser Art immer lästig waren, lässt sich umstimmen, als die Idee aufkommt, ihn mit einer Spendenaktion für Flüchtlinge – am besten für Flüchtlingskinder – zu verbinden. In dem kleinen Dorf hat man zwar bisher keinen einzigen Flüchtling gesehen, aber nachdem die Kanzlerin „Wir schaffen das“ gesagt hat, will man auch hier der Willkommenskultur auf die Sprünge helfen …
Hedwig und Leonhard könnten unterschiedlicher nicht sein: Hedy, wie sie in ihrer Partei genannt wurde, blieb unverheiratet und kinderlos. All ihre Kraft steckte sie in die Politik und ihren Beruf. Gegen Ende ihrer Berufstätigkeit adoptierte sie Fatima, die mit ihr nach Wittenhagen zog. Der verwitwete Leo, der auch noch im Alter eine schwärmerische Verehrung für Frauen pflegt, hat es nie geschafft, zu seinen Kindern eine enge Bindung herzustellen; der Kontakt zu seinem Sohn Rainer ist völlig abgebrochen. Während Hedwig ihre Umwelt weiterhin aus politischer Perspektive betrachtet, hat sich Leo mit seinen vertrauten Büchern umgeben und lebt in seinen Erinnerungen. Was nicht bedeutet, dass er sich vom Leben abkoppelt – mit wachen Sinnen nimmt er wahr, wie sich seine Umgebung verändert und Umgangsformen und Sprache immer mehr von dem entfernen, was er für akzeptabel hält.
Das Buch erzählt ein Jahr aus dem Leben in einem kleinen, abgehängten Dorf im Osten, in dem die Zeit dennoch nicht stehen bleibt. De Bruyn hat ein Gesellschaftspanorama auf engstem Raum gezeichnet, mit Charakteren, die einem in Literatur oder Fernsehen oft nur grob überzeichnet begegnen. Er urteilt nicht über seine Figuren, er zieht sie nicht ins Lächerliche, aber er beschönigt auch nicht. Ein ländliches Idyll hat er, der im gleichen Alter wie sein mit leisem Humor und einer Portion Altersstarrsinn ausgestattetem Protagonist Leo ist, das Buch genannt. Romantisch verklärt wird hier allerdings nichts. Er erzählt gradlinig und ohne verkrampfte Zeitsprünge, in einer Sprache, die den Leser daran erinnert, wie viel feine Ironie und Hintersinnigkeit sich in einem ausgeklügelten Satzbau verbergen können, leicht und heiter selbst dort, wo Verlust, Trauer oder Scheitern zum Thema werden.
Es könnte sein, dass dies der letzte Roman des bereits 92jährigen Günter de Bruyn sein wird, und er steht den besten Werken in seinem langen Leben in keiner Weise nach. Der neunzigste Geburtstag ist ein „Alterswerk“ im allerbesten Sinne.
Ruth Roebke, Bochum