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Autor
Franck, Julia

Welten auseinander

Untertitel
Beschreibung

Umzüge, Brüche und Trennungen sind die Konstanten eines Lebens, das Julia Franck in ihrem neuen Buch auf eindrückliche Weise literarisch verarbeitet. In einer Ostberliner Künstlerfamilie zwischen individualistisch und egozentrisch lebenden Frauen groß geworden, lernt das Mädchen seinen Vater erst als junge Erwachsene näher kennen, um ihn bald darauf wieder zu verlieren. Viele Leerstellen klaffen im Alltag der Heranwachsenden, besonders dann, wenn es um Versorgung, Unterstützung und emotionale Sicherheit geht.

Kontrapunkt ist die Geschichte einer großen Liebe, der Liebe zu ihrem Jugendfreund Stephan. Es scheint fast unmöglich die über Jahre entstandenen Schutzmauern gegen Verletzungen zu überwinden, zuzulassen, geliebt zu werden, und gelingt dann beglückender Weise doch. Welten auseinander ist Memoire und auslotende Bestandsaufnahme, ein stilles, wunderbares und unendlich trauriges Buch.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
S. Fischer Verlag, 2021
Format
Gebunden
Seiten
368 Seiten
ISBN/EAN
978-3-10-002438-1
Preis
23,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt ›Der neue Koch‹, danach ›Liebediener‹ (1999), ›Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen‹ (2000) und ›Lagerfeuer‹ (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman ›Die Mittagsfrau‹ erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 35 Sprachen übersetzt.

Zum Buch:

Umzüge, Brüche und Trennungen sind die Konstanten eines Lebens, das Julia Franck in ihrem neuen Buch auf eindrückliche Weise literarisch verarbeitet. In einer Ostberliner Künstlerfamilie zwischen individualistisch und egozentrisch lebenden Frauen groß geworden, lernt das Mädchen seinen Vater erst als junge Erwachsene näher kennen, um ihn bald darauf wieder zu verlieren. Viele Leerstellen klaffen im Alltag der Heranwachsenden, besonders dann, wenn es um Versorgung, Unterstützung und emotionale Sicherheit geht.

Kontrapunkt ist die Geschichte einer großen Liebe, der Liebe zu ihrem Jugendfreund Stephan. Es scheint fast unmöglich die über Jahre entstandenen Schutzmauern gegen Verletzungen zu überwinden, zuzulassen, geliebt zu werden, und gelingt dann beglückender Weise doch. Welten auseinander ist Memoire und auslotende Bestandsaufnahme, ein stilles, wunderbares und unendlich trauriges Buch.

Wenige Monate, nachdem Julia und ihre Zwillingsschwester auf die Welt gekommen sind, werden sie in eine Pflegefamilie gegeben. Ihre Mutter holt die dort eigentlich gut versorgten Kleinkinder dann aber zurück und wird einige Jahre später einen Ausreiseantrag aus der DDR in den Westen stellen, der auch bewilligt wird. Julia ist acht Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und ihren drei Schwestern in einem Auffanglager für DDR-Bürger untergebracht wird. Von dort ziehen sie wenig später auf einen abgelegenen Hof in Schleswig-Holstein.

„Aufgewachsen zwischen Brutkasten, einigen Freunden, Pflegefamilie, Krippen, Wochenheim und wechselnden Kinderfrauen. …“ Brüche, Umzüge und Trennungen sind die Konstanten in diesem Leben, das Julia Franck in ihrem neuen Buch auf eindrückliche Weise literarisch verarbeitet. Die Protagonistin, die in einer Ostberliner Künstlerfamilie groß wurde, ein Kind zwischen individualistisch und egozentrisch lebenden Frauen, abwesenden oder nur am Rande erwähnten Männern, lernt ihren Vater erst als junge Erwachsene näher kennen, um ihn dann, nur wenig später, ganz zu verlieren. Viele Leerstellen klaffen im Alltag der Heranwachsenden, besonders dann, wenn es um Versorgung, Unterstützung und emotionale Sicherheit geht.

Die innere Stärke, die das Mädchen entwickelt, entwickeln muss, um zu überleben, ist beeindruckend. Geschrieben hat sie schon immer, verarbeitet, festgehalten, dem Papier anvertraut, was außerhalb des eigenen Ichs nicht aufgefangen werden konnte. Dort zwischen den Seiten ihres Tagebuchs finden sich Kinderwünsche, wiederkehrende Scham in der Schule ob der prekären Lebensverhältnisse, Erschöpfung, aber auch Aufbruch und Überlebenswille. Der nahtlose Wechsel zwischen Ich-Perspektive und einer auf Distanz gehenden dritten Person, mit der Franck das Mädchen benennt, das sie selbst einmal war, findet manchmal in einem einzigen Satz statt. So überlässt die Autorin der/dem Lesenden den Grad der Anteilnahme und Betroffenheit.

Kontrapunkt ist die Geschichte einer großen Liebe, der Liebe zu ihrem Jugendfreund Stephan, die Julia Franck in großer Intensität beschreibt. Die Überwindung über Jahre entstandener Schutzmauern gegen Verletzung, sich einzulassen und zuzulassen, geliebt zu werden, scheint zwar so gut wie unmöglich, gelingt aber dann doch. Die Liebe zweier junger Erwachsener, die sich ineinander finden, einander nachts Bücher vorlesen, sich gegenseitig emotional und intellektuell herausfordern, auch durch ihre Herkunft, die unterschiedlicher nicht sein könnte, leuchtet in ihrer empfundenen Einzigartigkeit. Stephan und Julia überwinden die große Kluft und schaffen sich einen gemeinsamen Raum zwischen den Welten, die so weit auseinander liegen.

Die Beschreibung der Zeit im Flüchtlingslager hallt nach – vielleicht weil es auch heute so ein allgegenwärtiges und hochpolitisches Thema ist –,obwohl es in Francks Leben nur einer von vielen Durchgangsorten war : „Systemische Institutionen, Alimentierung, Unterbringung. Die Verwahrung von Menschenleben, Aufbewahrung. Ein Lager ist Stillstand im Transit, statt Neuanfang Gefangenschaft, statt Freiheit Isolation, statt Geborgenheit Enge, statt Intimität und Alleinsein die ständige, unfreiwillige Gegenwart von Mutter und Schwestern (…), das Knarren der Matratze über oder unter dir, das Knarren des Stuhls und der Tür, Tag und Nacht, immer.“

Welten auseinander reiht sich ein in das Genre der Memoires und autofiktionalen Lebensrückblicken, die durch ihren feinen und kunstvollen Umgang mit Sprache zu Literatur werden. An keiner Stelle reduziert sich der Text auf eine Abrechnung mit oder eine Entschuldigung von Lebensumständen. Es ist eine auslotende Bestandsaufnahme, ein stilles, wunderbares und unendlich trauriges Buch.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt